Blinde Voegel
Schuss ins Blaue, aber wenn sie mitlas, wenn sie noch mitlesen konnte …
«Wovon sprichst du?»
Beatrice lachte laut auf. Geschafft.
«Es ist etwas, das wir persönlich besprechen müssen. Es wird eine halbe Stunde dauern. Aber es lohnt sich.»
Das Klingeln ihres Handys ließ sie hochfahren, und einen irrationalen Moment lang dachte Beatrice, dass Sagmeister am anderen Ende sein würde, um das Gespräch auf diese Weise fortzuführen. Aber es war Florin, endlich.
«Wir sind jetzt hier, und sie öffnet nicht.» Er hörte sich gehetzt an. «Hat sie sich bei Facebook noch einmal gemeldet?»
«Ja, ich habe sie gerade im Chat.»
«Gut, sehr gut. Kannst du schon Entwarnung geben?»
«Nein, leider nicht. Lass mir noch zwei Minuten.» Sie legte auf. Noch keine Antwort von Sagmeister.
«Ira? Treffen wir uns morgen. Neun Uhr, am Residenzbrunnen. Deal?»
Warum reagierte sie nicht mehr? Stand sie an der Tür und beobachtete die Polizisten durch den Spion? Hatte sie schließlich doch noch geöffnet?
«Nein», erschien endlich die Antwort im Chatfenster. «Sag mir gleich, was los ist.»
«Das geht nicht. Morgen.»
«Dann ist es zu spät. Du kannst mich mal.»
Mist. Die Anspannung ließ Beatrices Kopfhaut kribbeln. Noch ein Versuch mit schwereren Geschützen.
«Ich glaube, ich weiß, warum du sterben willst, und was ich dir zu sagen habe, hat damit zu tun.» Das war völlig aus der Luft gegriffen, eine Notlösung, aber wenn sie funktionierte …
Beatrice fixierte das Chatfenster mit ihrem Blick, als könnte sie durch pure Willenskraft eine Antwort herbeizwingen. Nach einer Minute, in der das Bild des Mädchens in der Badewanne voll rotem Wasser immer deutlicher wurde, hielt sie es nicht mehr aus. Sie rief Florin an.
«Geht hinein, bitte. Ich hatte sie bis eben noch im Chat, aber jetzt ist sie fort, glaube ich.»
«Okay. Ich melde mich gleich wieder.»
Wie viel hätte Beatrice dafür gegeben, vor Ort sein zu können. Wenn Ira sich in den letzten Minuten erhängt hatte, war es schon zu spät. Ein gebrochenes Genick ließ sich nicht rückgängig machen, ebenso wenig wie ein in die Badewanne geworfener Föhn. Dann noch besser Pillen, aufgeschnittene Pulsadern oder … am allerbesten ein Fehlalarm.
Mit geschlossenen Augen sank Beatrice gegen die Sofalehne. Was war das bestmögliche Szenario in dieser Situation? Dass Florin Ira völlig gesund auffinden würde, wenn auch wütend, weil ihre Tür aufgebrochen worden war. Dass er sie überredete, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, oder sie notfalls dazu zwang. Das würde einige Zeit in Anspruch nehmen, sein Rückruf würde frühestens in einer halben Stunde kommen.
Zweitbestes Szenario: ein unvollendeter Selbstmord, der durch schnelle ärztliche Hilfe verhindert werden konnte. Auch da würde Florin erst alles Wichtige erledigen und sich dann melden, je länger sein Anruf also auf sich warten ließ, desto besser.
Das Bild, wie Ira sie und Florin letztens an der Tür erwartet hatte, kam ihr wieder in den Sinn. Rauchend, mit unstetem Blick. Nicht gewillt, jemanden einfach so in ihre Wohnung zu lassen. Zwanzig Jahre alt, aber voller ungebändigter Emotionen. Möglicherweise gab es zu ihr sogar schon eine Akte in der Jugendpsychiatrie, das würden sie …
Beatrices Handy klingelte. Viel zu früh.
Sie richtete sich auf, atmete ein, hatte trotzdem das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Fluchte stimmlos, bevor sie abhob.
«Wir sind jetzt in der Wohnung», sagte Florin. «Aber Ira ist nicht hier. Wir haben überall nachgesehen. Sie muss weggegangen sein.»
Einen Atemzug lang hielt Beatrice das für eine gute Nachricht, bevor sie begriff, dass davon keine Rede sein konnte. Draußen hatten sie keine Chance, sie zu finden. Sie konnte überall sein, und niemand würde sie daran hindern zu tun, was sie sich vorgenommen hatte.
Aber da war noch …
«Der Computer! Florin, siehst du irgendwo in der Wohnung ihren Computer? Ein blaues Notebook, erinnerst du dich? Sie hatte es auf der Anrichte, neben den Teetassen.»
«Da ist nichts. Ich suche danach, gut? Stefan bemüht sich gerade, Iras Handynummer zu bekommen, vielleicht erreichen wir sie so.»
Ja. Ja, das war ein guter Anfang, aber …
«Ich komme zu euch.»
«Musst du nicht, du kannst doch die Kinder nicht allein lassen.»
«Das tue ich nicht.» Sie legte auf und suchte Katrins Nummer im Adressbuch ihres Handys. Die Nachbarstochter war ein Geschenk der Götter, wenn auch ein recht gut bezahltes. Es war kurz vor
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