Blinde Voegel
der Befriedigung seiner Neugier.»
In einer nachdenklichen Geste strich Florin sich übers Kinn. «Ira war Studentin, er ist Professor. Nicht ihrer, schon wahr, aber trotzdem. Er hat immerhin Gerald Pallauf unterrichtet, vielleicht weiß er mehr, als er uns gesagt hat.»
An manchen Tagen fühlt es sich an wie ein Spiel. Es gibt eines, von dem ich vergessen habe, wie es heißt, aber man bekommt Bus- und Taxitickets, mit denen man sich durch eine Stadt bewegen muss, um den Jägern zu entkommen, die hinter einem her sind. Ab und zu zeigt man sich, damit die Meute ihre Richtung ändern kann.
Ich bin so müde.
Mein Ticket wird für einen Flieger sein. Bald. Und ich gedenke, neue Regeln einzuführen. Mich nicht mehr zu zeigen, außer, es ist unumgänglich oder zu meinem eigenen Vorteil.
Vor einiger Zeit habe ich einmal meine Kleidung mit einem Jungen getauscht, der das großartig fand. Er war ziemlich voll und ziemlich fröhlich, und er hatte bisher immer Glück gehabt.
Auch er hielt es für ein Spiel. Er hatte recht, es war eines. Damals habe ich gewonnen.
Um 14 Uhr ging die Pressemeldung heraus. Das beigefügte Bild von Ira war ernst und schön, der Aufruf, sich zu melden, wenn man sie am Abend ihres Todes zwischen neunzehn und dreiundzwanzig Uhr gesehen hatte, klang unaufgeregt. Das Wort «Selbstmord» kam nicht vor, stattdessen war Ira «unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen».
Nachdem die Neuigkeit die Facebook-Gruppe erreicht hatte, sprach nichts mehr dagegen, das zu tun, was Beatrice schon längst vorhatte. Sie rief Oliver Hegenloh an, bereits eine Entschuldigung auf den Lippen, für den Fall, dass ihre Rückschlüsse aus seinen gesammelten Internetauftritten sie zu einem völlig unbeteiligten und ahnungslosen Pharmaziestudenten geleitet hatten. Aber die Sorge war unbegründet. Er wusste sofort, worum es ging.
«Sie müssen nicht mit mir sprechen», erklärte sie ihm gleich zu Beginn, «aber ich würde Sie sehr herzlich darum bitten, es zu tun.»
Hegenloh dachte nicht einmal zwei Sekunden darüber nach. «Natürlich helfe ich Ihnen gerne. Obwohl ich Ira auch nur aus dem Netz kannte.»
«Über Skype hatten Sie ebenfalls Kontakt, ist das richtig?»
«Ja», sagte er, nicht ohne Verblüffung in der Stimme. «Woher wissen Sie das?»
«Wir haben nach Gerald Pallaufs Tod ein Auge auf die Lyrik-Gruppe gehabt. Dort haben Sie das neulich erwähnt.»
«Oh. Stimmt.»
Der Zettel mit den Fragen knisterte in Beatrices Hand. «Waren Sie überrascht, als Sie erfahren haben, dass Ira sich wirklich das Leben genommen hat?»
«Nein.» Er sagte es leise, aber mit Nachdruck. «Der Tod war immer ein großes Thema für sie, das haben Sie bestimmt auch mitbekommen, wenn Sie sich in der Gruppe umgesehen haben.»
«Wissen Sie etwas von den Problemen, die sie hatte?»
Hegenloh atmete hörbar ins Telefon. «Eigentlich nicht. Manche Menschen sind einfach unglücklich, obwohl es ihnen den äußeren Umständen nach gar nicht so schlechtgeht. Bei Ira war es allerdings so …» Er unterbrach sich. «Hören Sie, was ich Ihnen jetzt sage, ist eine reine Vermutung und legt vielleicht eine ganz falsche Spur.»
Beatrices Blick fiel auf eines der Fotos, die Iras totes Gesicht zeigten. «Sagen Sie es trotzdem. Bitte.»
Er holte Luft. «Ich könnte mir vorstellen, dass sie irgendwann vergewaltigt worden ist. Bei einem unserer Skype-Gespräche hat sie das Thema angeschnitten, aber so, als beträfe es nicht sie, sondern eine Freundin. Ich bin darauf eingegangen, natürlich. Sie wusste, dass ich Pharmazie studiere, und wollte wissen, ob es Medikamente gibt, die solche Traumata verschwinden lassen.»
Zwei Puzzleteile griffen ineinander. Diese Information und Iras Beschwerde über die Polizei. Nicht bereit zuzuhören, wenn jemand von sich aus etwas erzählen möchte.
«Hat sie mehr dazu gesagt? Wann und wo es passiert ist?»
«Nein. Sie hat ziemlich schnell das Thema gewechselt, aber für mich hat danach alles Düstere und Traurige, was sie gepostet hat, einen neuen Sinn ergeben.»
«Das ist eine wichtige Information, vielen Dank.»
«Kann ich sonst noch irgendetwas tun?»
Beatrice konsultierte ihre Notizen. «Hatte Ira mit jemandem aus der Gruppe ein besonders gutes Verhältnis? Oder ein besonders schlechtes?»
«Weder noch, glaube ich. Sie war nicht darauf aus, anderen zu gefallen. Sie wollte lieber provozieren.»
Irgendwann an diesem Nachmittag holte Bechner sie aus ihrer Arbeitstrance, indem er die Tür aufriss und
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