Blinde Voegel
allzu oft zur Tür sieht oder erst nach einer Stunde und mehreren Getränken etwas zu essen bestellt, dann wartet er auf jemanden.»
«Aber es ist niemand aufgetaucht?», hakte Florin nach. «Nicht einmal kurz, auf ein paar schnelle Worte?»
«Wenn doch, dann habe ich es nicht mitbekommen.» Breiner griff nach einem Bierdeckel und begann, ihn zwischen den Fingern zu drehen. Mehrmals setzte er dazu an, etwas zu sagen. Als er es schließlich tat, war seine Stimme leise. «Ich weiß, dass man über Tote nur nett sprechen soll, und es tut mir auch leid, dass der jungen Frau etwas zugestoßen ist – aber sie war nicht sympathisch. Ich habe ihr das Essen gebracht und sie ansonsten in Ruhe gelassen.»
Beatrice erinnerte sich noch genau an ihre einzige persönliche Begegnung mit Ira. Sie wusste, was Breiner meinte, und fragte nicht weiter nach. Aber «Essen» war ein gutes Stichwort. «Erinnern Sie sich noch, was sie bestellt hat?»
Er stutzte für einen Moment. «Ja. Ich glaube schon … es war etwas, das immer nur Frauen bestellen, ich dachte mir nämlich noch: Typisch, Grünzeug – warten Sie. Genau. Die Ricotta-Spinatcannelloni waren es. Getrunken hat sie dazu stilles Wasser.» Breiner legte den Bierdeckel beiseite und verschränkte die Finger ineinander.
Spinatcannelloni. Damit waren die letzten Zweifel ausgeräumt.
«Vielen Dank, Herr Breiner.» Florin überflog seine Notizen. «Nur noch eine Frage: Eine Zeugin hat sich bei uns gemeldet und angegeben, dass es am Ende noch Ärger wegen der Rechnung gegeben hätte – können Sie das bestätigen?»
Der Geschäftsführer musste nicht lange überlegen. «Ja. Angeblich hatte ich dem Mädchen zu wenig Geld herausgegeben. Sie hat sich ziemlich aufgeregt.»
«Und ist danach gleich gegangen?»
«Ja. Wenn Sie wissen wollen, wie spät es war: kurz vor halb neun. Ich war noch froh, dass sie nicht den ganzen Abend bleiben wollte.»
Eine so genaue Zeitangabe war ein Geschenk. Beatrice würde sich die Facebook-Einträge noch einmal durchsehen, obwohl die Uhrzeit der Postings nicht mehr nachvollziehbar war. Allerdings war sie ziemlich sicher, dass Ira Wenn ich sterbe erst später gepostet hatte. Die Diskussion, die sich daran angeschlossen hatte, die Versuche der Gruppe, Ira zu erreichen – all das war später passiert. Nicht hier also. Wo aber dann? Möglicherweise konnte Stefan …
Ihr Handy klingelte. Bitte, flehte sie stumm, nicht schon wieder Achim und seine übliche Beschwerdeliste. Mit Gummibärchen verklebte Seiten in Jakobs Lesebuch oder etwas vergleichbar Weltbewegendes.
Doch die Nummer auf dem Display war fremd, und sie war ungewöhnlich lang. Mit entschuldigendem Nicken stand Beatrice auf und wandte sich ab.
«Kaspary.»
«Guten Tag.» Es war eine Frau, die mit Akzent sprach. Beatrice verknotete sich der Magen, noch bevor ihr Kopf die richtigen Schlüsse gezogen hatte. War das etwa …
«Hier spricht Anneke Ruysch. Ich hoffe, ich störe Sie nicht eben?»
Florins Anneke. «Nein. Gar nicht.» Die Anwort war Beatrice wie von selbst über die Lippen gekommen und hatte einigermaßen natürlich geklungen, wenn auch zu hastig.
Wieso rief Anneke sie an? Sie waren sich noch nie richtig begegnet, Beatrice hatte sie zwar ein paarmal aus der Entfernung gesehen, aber bisher kein einziges Wort mit ihr gewechselt.
Unwillkürlich drehte sie sich zu Florin um, der gerade der Kellnerin Ella die Hand schüttelte.
«Ich möchte gern wissen, was los ist.» Es klang gleichzeitig drollig und hart.
Im Grunde hatte Beatrice angenommen, Anneke würde mit Florin sprechen wollen. Weil sie ihn auf seinem Handy nicht erreichte und es dringend war, oder … egal, alles wäre wahrscheinlicher – und auch besser – gewesen als das, wonach Annekes Eröffnung sich anhörte.
Beatrice ließ sich zu lange Zeit mit ihrer Antwort, sie spürte es selbst, aber das Gefühl, plötzlich in einer Geschichte zu stecken, in die sie nicht gehörte, brachte sie völlig aus dem Konzept. Nichts , hätte sie sagen sollen. Nichts ist los, was wollen Sie überhaupt von mir?
«Ich weiß nicht, was Sie meinen», sagte sie stattdessen.
«Aber Sie wissen, wer ich bin?»
«Ja.» Wieder sah sie sich zu Florin um, der ihren Blick fragend erwiderte. Beatrice ging zwei Schritte näher an die Tür heran. «Ich glaube es zumindest. Trotzdem verstehe ich nicht, weswegen Sie mich anrufen.» Und woher Sie meine Nummer haben, fügte sie im Stillen hinzu. Dabei war das wirklich einfach zu erklären. Ein
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