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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ihrer Turnschuhe neu.
    »Ich frage mich, ob es für mich das Richtige wäre«, sagte sie nachdenklich.
    »Mit anderen zusammenleben?«
    »Ja«, sagte sie.
    »Tja, ich weiß nicht. Es ist lästiger, als man sich vorstellt. Die ganzen kleinlichen Vorschriften, und dann diese Radiogymnastik.«
    »Wahrscheinlich.« Sie schien darüber nachzudenken. Dann sah sie mir in die Augen. Mir war noch nie aufgefallen, wie unnatürlich tief und klar ihre Augen waren. Sie wirkten seltsam transparent, als würde man in den Himmel schauen.
    »Aber manchmal finde ich, ich sollte, denn …« Sie biss sich auf die Lippe und senkte den Blick. »Ach, ich weiß nicht. Egal.«
    Ende des Gesprächs. Sie ging weiter.
    Ich hatte sie seit einem halben Jahr nicht gesehen. Sie war so dünn geworden, dass ich sie fast nicht erkannt hätte. Ihre runden Wangen waren hohl geworden und ihr Hals schmal und zart. Dennoch wirkte sie nicht hager; sie sah hübscher aus denn je. Ich hätte ihr das gern gesagt, aber ich wusste nicht wie, also ließ ich es lieber.
    Wir waren ohne einen bestimmten Grund nach Yotsuya gekommen. Wir waren uns zufällig in der Chuo-Linie begegnet; keiner von uns hatte etwas vor. Lass uns aussteigen, hatte sie an der Station Yotsuya vorgeschlagen, also stiegen wir aus. Wenn wir allein waren, hatten wir uns nicht sehr viel zu sagen. Ich wusste nicht, warum sie vorgeschlagen hatte auszusteigen, denn von Anfang an hatten wir eigentlich keine Gesprächsthemen.
    Kaum waren wir aus dem Bahnhof, setzte sie sich wortlos in Bewegung. Ich folgte ihr, immer ungefähr einen Meter hinter ihr, und versuchte mit ihr Schritt zu halten. Von Zeit zu Zeit drehte sie sich zu mir um und sagte etwas. Ich antwortete, so gut ich konnte, aber oft fiel mir auch gar nichts ein. Manchmal verstand ich nicht einmal, was sie sagte, aber das schien sie nicht zu stören. Wenn sie gesagt hatte, was sie sagen wollte, drehte sie sich wieder nach vorn und ging stumm weiter.
    In Iidabashi bog sie nach rechts ab, sodass wir am Palastgraben herauskamen, überquerte die Kreuzung Jinbocho und ging den Hügel in Ochanomizu hinauf, bis wir schließlich in Hongo waren. Von dort folgte sie den Straßenbahnschienen bis Komagome. Eine regelrechte Wanderung. Als wir in Komagome ankamen, wurde es schon dunkel.
    »Wo sind wir hier?«, fragte sie plötzlich.
    »In Komagome«, erwiderte ich. »Wir haben einen mächtigen Bogen geschlagen.«
    »Wie sind wir denn hierher gekommen?«
    » Du bist doch vorausgegangen. Ich bin dir bloß gefolgt.«
    Wir gingen in ein Nudellokal am Bahnhof, um eine Kleinigkeit zu essen. Nachdem wir bestellt hatten, sagte keiner von uns ein Wort, bis wir aufgegessen hatten. Ich war von der Wanderung völlig erledigt. Sie saß nur da, offenbar in Gedanken versunken.
    »Du bist ja ziemlich gut in Form«, sagte ich nach dem Essen zu ihr.
    »Überrascht dich das? In der Mittelstufe war ich Langstreckenläuferin. Und mein Vater ging gern zum Wandern in die Berge und hat mich als Kind jeden Sonntag mitgenommen. Davon habe ich wohl kräftige Beine bekommen.«
    »Darauf wäre ich nie gekommen.«
    Sie lachte.
    »Ich bringe dich nach Hause«, sagte ich.
    »Brauchst du nicht«, antwortete sie. »Ich kann allein heimfahren.«
    »Macht mir aber überhaupt nichts aus.«
    »Ist wirklich okay. Ich bin’s gewöhnt, allein nach Hause zu gehen.«
    Ehrlich gesagt, war ich erleichtert. Bis zu ihrer Wohnung brauchte man über eine Stunde mit der Bahn, und es würde mir langweilig werden, die ganze Zeit stumm neben ihr zu sitzen. Also würde sie allein nach Hause fahren. Da ich deswegen ein schlechtes Gewissen hatte, zahlte ich für uns beide.
    Als wir uns gerade verabschieden wollten, wandte sie sich mir zu und sagte: »Weißt du, also, wenn das nicht zu viel verlangt ist – könnte ich dich vielleicht einmal wiedersehen? Ich weiß, eigentlich gibt’s ja keinen Grund dafür …«
    »Dafür braucht man doch keinen Grund«, sagte ich verwundert.
    Sie errötete ein bisschen. Wahrscheinlich war meine Verwunderung zu offensichtlich gewesen.
    »Ich kann’s nicht gut erklären«, sagte sie. Sie krempelte die Ärmel ihres Sweatshirts bis zu den Ellbogen auf und streifte sie dann wieder hinunter. Die elektrische Beleuchtung färbte die feinen Härchen auf ihren Unterarmen golden.
    » Grund ist das falsche Wort. Ich hätte ein anderes verwenden sollen.« Mit geschlossenen Augen, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, suchte sie nach dem richtigen. Aber es fiel ihr nicht ein.
    »Ist doch

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