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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hinterlassen hatte, blieben seine Beweggründe im Dunkeln. Als der letzte, der ihn lebend gesehen hatte, musste ich eine Aussage bei der Polizei machen. Er habe sich nicht ungewöhnlich verhalten, sagte ich. Er sei gewesen wie immer. Leute, die sich umbringen wollen, gewinnen normalerweise nicht drei Partien Billard hintereinander, oder? Anscheinend waren sowohl ich als auch mein Freund der Polizei etwas suspekt. Sie fanden es wohl nicht weiter verwunderlich, dass einer, der die Schule schwänzte, um Billard zu spielen, anschließend auch noch Selbstmord beging. In der Zeitung erschien ein kurzer Artikel, und damit war die Sache erledigt. Seine Eltern stießen das Auto ab, und einige Tage lang lag auf seinem Pult in der Schule immer eine weiße Blume.
    Als ich mit der Schule fertig war und nach Tokyo zog, nahm ich mir nur eins vor: nicht zu viel nachzudenken. Ich beschloss, den mit grünem Filz bespannten Billardtisch, den roten N-630 und die weißen Blumen auf seiner Bank zu vergessen, ebenso wie den aus dem Schornstein des Krematoriums aufsteigenden Rauch und den massiven Briefbeschwerer auf der Polizeiwache, einfach alles. Anfangs schien ich vergessen zu können, doch etwas Ungreifbares, Atmosphärisches blieb in mir zurück. Mit der Zeit nahm es eine simple, klare Form an, die sich sogar in Worte fassen ließ:
    Der Tod ist nicht das Gegenteil des Lebens, sondern ein Teil davon.
    Laut ausgesprochen klingt das banal. Die reinste Selbstverständlichkeit. Damals aber sah ich darin nicht einen Satz aus Wörtern; eher die Luft, die in meinen Körper drang. Der Tod war in allem, was mich umgab – in Briefbeschwerern, in den vier Kugeln auf dem Billardtisch. Und unser ganzes Leben lang saugen wir ihn wie feinen Staub in unsere Lungen.
    Bis dahin hatte ich den Tod immer als etwas vom Leben Getrenntes, davon Unabhängiges gesehen. Sicher, er war unvermeidlich; aber man konnte das genauso gut umdrehen und sagen, bis dahin hat er nichts mit mir zu tun. Das Leben hier, auf dieser Seite – und dort drüben der Tod. Logisch, oder?
    Aber seit der Nacht, in der mein Freund gestorben war, konnte ich den Tod nicht mehr so naiv betrachten. Der Tod war nicht das Gegenteil des Lebens. Ich trug ihn bereits in mir. Diesen Gedanken wurde ich nicht mehr los. Der Tod, der an jenem Abend im Mai meinen siebzehnjährigen Freund gepackt hatte, griff auch nach mir, das hatte ich nun erkannt, aber ich versuchte, nicht zu viel daran zu denken, was sich als ziemlich schwierig erwies. Mit achtzehn war ich noch zu jung, um dem Tod gegenüber eine gelassene, neutrale Position einzunehmen.

    Danach verabredeten wir uns ein-, zweimal im Monat. Man kann es wohl Verabredungen nennen, ein besseres Wort dafür fällt mir nicht ein.
    Sie besuchte eine kleine, aber feine Universität für Mädchen am Stadtrand, nur zehn Minuten zu Fuß von ihrer Wohnung entfernt. An der Straße zu ihrer Uni lag ein hübsches Wasserreservoir, an dem wir manchmal spazieren gingen. Sie schien keine Freunde zu haben. Wie früher war sie sehr still. Es gab nichts zu erzählen, also hielt auch ich meist den Mund. Wir sahen uns nur an, dann trabten wir unentwegt voran.
    Dabei machten wir durchaus Fortschritte. Gegen Ende der Sommerferien begann sie, ganz normal neben mir zu gehen, statt wie bisher mir voraus. Weiter und weiter wanderten wir, Schulter an Schulter, bergauf und bergab, über Brücken und Straßen. Wir hatten nie ein festes Ziel oder einen bestimmten Plan. Wenn wir eine Weile gegangen waren, kehrten wir in ein Café ein, um uns zu stärken, und machten uns wieder auf den Weg. Nichts änderte sich daran, nur die Jahreszeiten wechselten wie Dias in einem Projektor. Es wurde Herbst, und der Hof meines Wohnheims war von Keyaki-Laub bedeckt. Beim Überziehen eines Pullovers roch ich die neue Jahreszeit. Ich kaufte mir neue Wildlederschuhe.
    Als der Herbst zu Ende ging und der Wind eisig wurde, ging sie so dicht neben mir, dass sie von Zeit zu Zeit meinen Arm berührte. Trotz meines dicken Dufflecoats spürte ich, wie sie atmete. Aber das war alles. Die Hände tief in den Manteltaschen, schritt ich endlos neben ihr dahin. Da unsere Schuhe Gummisohlen hatten, erzeugten unsere Schritte kaum ein Geräusch, abgesehen von dem trocknen Knacken, wenn wir auf die großen Platanenblätter auf dem Pflaster traten. Es war nicht mein Arm, den sie suchte, sondern irgendeinen, und auch nicht meine Wärme. So fühlte es sich damals wenigstens an.

    Die anderen im Wohnheim zogen mich

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