Blinde Weide, Schlafende Frau
egal«, sagte ich.
»In letzter Zeit kann ich nie sagen, was ich meine. Ich kann’s einfach nicht. Immer wenn ich etwas Bestimmtes sagen will, kommt etwas anderes heraus, oder sogar das Gegenteil. Dann will ich mich verbessern und mache es nur noch schlimmer. Am Ende bin ich ganz durcheinander und weiß selbst nicht mehr, was ich sagen wollte. Es ist, als wäre ich zweigeteilt und die eine Hälfte müsste der anderen nachhetzen – immer um einen dicken Pfosten herum. Mein anderes Ich kennt die richtigen Worte, aber ich kann es nie einholen.«
Sie legte die Hände auf den Tisch und sah mir in die Augen.
»Verstehst du, was ich sagen will?«
»Das geht mehr oder weniger jedem manchmal so«, sagte ich. »Man kann sich nicht richtig ausdrücken und ärgert sich.«
Anscheinend wollte sie das nicht hören.
»Nein, das meine ich nicht«, sagte sie, sprach aber nicht weiter.
»Wir können uns gern wieder treffen«, sagte ich. »Ich habe fast immer Zeit, und es ist bestimmt gesünder spazieren zu gehen, als nur herumzugammeln.«
Am Bahnhof verabschiedeten wir uns und gingen auseinander.
Das erste Mal war ich ihr begegnet, als ich in der elften Klasse war, im Frühling. Wir waren gleichaltrig, aber sie ging auf eine noble, von einer christlichen Mission geführte Mädchenschule. Sie war die Freundin meines besten Freundes, und er stellte sie mir vor. Ihre Familien wohnten kaum zweihundert Meter voneinander entfernt, und sie kannten sich seit der Grundschule.
Wie bei den meisten Paaren, die sich seit ihrer Kindheit kennen, war ihre Beziehung sehr offen, und sie schienen nie den Wunsch zu verspüren, miteinander allein zu sein. Ständig besuchten sie einander zu Hause und aßen häufig zusammen. Gelegentlich gingen wir zu viert aus, aber ich konnte mit den Mädchen, mit denen ich mich dazu verabredet hatte, nie viel anfangen, sodass wir uns schließlich nur noch zu dritt trafen, was ganz in meinem Sinne war. Die Rollen waren fest verteilt. Ich war der Gast, ihr Freund der versierte Gastgeber und sie seine charmante Assistentin und die Dame an seiner Seite.
Er spielte seine Rolle glänzend. Auch wenn er eine Neigung zum Sarkasmus hatte, war er im Grunde rücksichtsvoll und fair. Er neckte uns beide – sie und mich – immer wieder mit den gleichen Scherzen. Wurde einer von uns schweigsam, lockte er uns geschickt aus der Reserve. Er konnte unsere Stimmung blitzschnell erfassen und darauf reagieren. Und er besaß noch eine weitere Begabung: Er konnte noch den Äußerungen des langweiligsten Menschen der Welt etwas Interessantes abgewinnen. So fühlte ich mich, wenn ich mit ihm sprach – als wäre mein ödes Leben ein einziges großes Abenteuer.
Doch kaum verließ er den Raum, verstummten seine Freundin und ich. Wir hatten null Gemeinsamkeiten und einander nichts zu sagen. Wir spielten schweigend mit dem Aschenbecher, nippten an unseren Wassergläsern und warteten auf ihn. Sobald er zurückkam, ging das Gespräch dort weiter, wo es abgebrochen war.
Dann hatte ich sie nur noch ein einziges Mal gesehen, drei Monate nach seiner Beerdigung. Wir trafen uns wegen irgendeiner kleinen Sache in einem Café, aber kaum hatten wir sie geklärt, fiel uns nichts mehr ein. Ich unternahm mehrmals einen Versuch, aber das Gespräch versickerte. Ihre Stimme klang so, als wäre sie ärgerlich auf mich, aber das konnte ich mir nicht erklären.
Vielleicht nahm sie es mir übel, dass ich und nicht sie die letzte Person gewesen war, die ihn lebend gesehen hatte. Ich weiß, ich sollte das nicht sagen, aber ich verstehe das sehr gut und hätte gern mit ihr getauscht, wenn es möglich gewesen wäre. Aber so war es nun einmal, wir konnten nichts dagegen tun. Was geschehen ist, ist geschehen und lässt sich nie mehr zurückdrehen.
An jenem Nachmittag im Mai hatten mein Freund und ich nach der Schule (vielmehr, die Schule war noch nicht aus, wir waren einfach früher gegangen) in einem Billardsalon vier Partien gespielt. Ich gewann die erste, er die übrigen drei. Wie verabredet, zahlte derjenige, der verloren hatte.
An diesem Abend starb er in seiner Garage. Er hatte einen Gummischlauch auf den Auspuff seines N-360 gebunden, die Fenster mit Klebeband versiegelt und den Motor angelassen. Wie lange es dauerte, bis er tot war, weiß ich nicht. Als seine Eltern von einem Krankenbesuch nach Hause kamen, war er bereits tot. Das Autoradio war eingeschaltet. Unter dem Scheibenwischer klemmte eine Benzinquittung.
Da er keinen Abschiedsbrief
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