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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wenigstens nicht völlig nutzlos. Er zog sich an und ging ins Bad, um sich zu waschen, wozu er Ewigkeiten brauchte. Manchmal fragte ich mich, ob er jeden Zahn einzeln herausnahm und bürstete. Wieder im Zimmer, schüttelte er knallend sein Handtuch aus und hängte es zum Trocknen auf einen Bügel. Zahnbürste und Seife legte er ins Regal zurück. Dann wurde es Zeit für die Morgengymnastik im Radio.
    Da ich meist spät zu Bett ging und fest schlief, lag ich noch im Tiefschlaf, wenn die Radiogymnastik anfing. Aber wenn der Teil mit den Sprüngen kam, fiel ich fast aus dem Bett. Bei jedem Sprung – und er sprang richtig hoch – hob sich mein Kopf fünf Zentimeter vom Kissen. Wie soll einer dabei schlafen!
    »Tut mir leid«, sagte ich am vierten Tag. »Aber kannst du deine Gymnastik nicht auf dem Dach oder sonst wo machen? Ich wache davon auf.«
    »Geht nicht«, sagte er. »Dann beschweren sich die Leute im zweiten Stock. Hier sind wir wenigstens im Parterre.«
    »Und wie wär’s mit dem Hof?«
    »Geht auch nicht. Ich hab kein Transistorradio, und ohne die Musik kann ich die Übungen nicht richtig machen.«
    Das stimmte, sein Radio funktionierte nur mit Netzanschluss. Ich hätte ihm mein Transistorradio leihen können, aber es empfing nur UKW.
    »Dann stell wenigstens die Musik leiser und lass das Springen weg. Da wackelt ja alles. Ich will mich ja nicht beklagen, aber …«
    »Springen?«, fragte er verständnislos. »Was ist das?«
    »Springen, du weißt schon, hops, hops. Das eben.«
    »Mache ich doch gar nicht.«
    Mein Kopf begann zu schmerzen. Ich war drauf und dran aufzugeben. Dann aber wollte ich ihm meinen Standpunkt doch noch einmal deutlich machen. Ich hopste herum und sang dabei die Erkennungsmelodie der NHK-Gymnastiksendung.
    »Siehst du jetzt, was ich meine?«
    »Ach so, ja das. Ist mir gar nicht aufgefallen.«
    »Na also«, sagte ich. »Den Teil sollst du auslassen. Das andere kann ich ertragen.«
    »Das geht nicht«, erklärte er ungerührt. »Ich kann nicht einfach etwas weglassen. Ich mache die Übungen seit zehn Jahren, und wenn ich angefangen habe, mache ich sie automatisch ganz durch. Wenn ich eine weglasse, ka-ka-kann ich das Ganze nicht machen.«
    »Dann lass doch das Ganze.«
    »Spinnst du? Willst du mich rumkommandieren?«
    »Ich will niemanden rumkommandieren, ich will nur bis acht schlafen. Wenn das nicht geht, möchte ich wenigstens auf normale Weise aufwachen, nicht mitten in der Weltmeisterschaft im Hochsprung. Verstehst du?«
    »Ja, ich verstehe«, sagte er.
    »Und was machen wir jetzt?«
    »Wir könnten doch zusammen aufstehen und die Gymnastik gemeinsam machen!«
    Resigniert drehte ich mich um und schlief wieder ein.
    Fortan machte er weiter jeden Morgen seine Gymnastik, ohne einen einzigen Tag auszulassen.

    Sie kicherte, als ich ihr von der Radiogymnastik meines Zimmergenossen erzählte. Ich hatte gar nicht davon erzählt, um sie zu amüsieren, aber am Ende musste ich selbst lachen. Sie lachte nur ganz kurz, aber dabei wurde mir bewusst, dass ich sie schon lange nicht mehr lächeln gesehen hatte.
    Es war an einem Sonntagnachmittag Mitte Mai. Wir waren in Yotsuya aus der Bahn gestiegen und gingen an den Schienen entlang in Richtung Ichigaya. Der Südwind hatte die tief hängenden Wolken davongejagt, und die Regenschauer hatten gegen Mittag aufgehört. Das frische Grün der Kirschbäume hob sich leuchtend gegen den Himmel ab und flimmerte im Wind. Es duftete frühsommerlich. Die meisten Leute, an denen wir vorbeikamen, hatten ihre Jacken und Pullover ausgezogen und sich um die Schultern gelegt. Auf einem Tennisplatz spielte ein junger Mann ohne Hemd, nur in Shorts. Der Alurahmen seines Schlägers blitzte in der Nachmittagssonne.
    Nur zwei Nonnen saßen noch in schwarzem Winterhabit auf einer Bank; bei ihrem Anblick verlor sich mein Gefühl, der Sommer stehe unmittelbar bevor.
    Kaum waren wir eine Viertelstunde gegangen, da lief mir schon der Schweiß über den Rücken. Ich zog mein dickes Baumwollhemd aus und ging im T-Shirt weiter. Sie rollte die Ärmel ihres grauen, adrett verwaschenen Sweatshirts auf. Es kam mir vertraut vor, als hätte ich es vor langer Zeit schon einmal gesehen.
    »Macht es Spaß, mit jemandem zusammenzuwohnen?«, fragte sie.
    »Ich weiß nicht recht. Ich wohne ja noch nicht lange dort.«
    Sie blieb an einem Trinkbrunnen stehen, nahm einen Schluck Wasser, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Mund ab. Dann band sie sich die Schnürsenkel

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