Blinde Weide, Schlafende Frau
auf, wenn sie anrief oder wenn ich am Sonntagmorgen ausging, um mich mit ihr zu treffen. Sie dachten, ich hätte mir eine Freundin zugelegt. Ich fühlte mich zu keiner Erklärung verpflichtet und beließ es dabei. Wenn ich von einem unserer Ausflüge nach Hause kam, fragte mich unweigerlich jemand, ob ich zum Zug gekommen sei. »Kann mich nicht beklagen«, antwortete ich jedes Mal.
So verstrich mein achtzehntes Lebensjahr. Die Sonne ging auf, die Sonne ging unter, Fahne hoch, Fahne runter. Und am Sonntag traf ich mich mit der Freundin meines toten Freundes. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich da tat oder später zu tun gedachte. Für meine Seminare las ich zwar pflichtgemäß die Stücke von Claudel und Racine, ich las auch Eisenstein. Ihr Stil gefiel mir, mehr aber auch nicht. Freundschaften schloss ich an der Uni oder im Wohnheim kaum. Man hielt mich für einen angehenden Schriftsteller, weil ich die ganze Zeit las. Aber ich hatte nicht die Absicht, Schriftsteller zu werden. Ich hatte überhaupt keine Absichten.
Mehrmals versuchte ich mit ihr über dieses Gefühl zu sprechen; sie zumindest musste doch verstehen, wie ich mich fühlte. Aber ich konnte es nie in Worte fassen. Wie sie es mir am Anfang geschildert hatte, suchte ich nach den richtigen Worten, aber sie entschlüpften mir und versanken in schlammigen Tiefen.
An den Samstagabenden saß ich in der Eingangshalle des Wohnheims neben dem Telefon und wartete auf ihren Anruf. Manchmal rief sie drei Wochen lang nicht an, manchmal zwei. Dennoch saß ich auf meinem Stuhl in der Halle und wartete. Samstags gingen die meisten Studenten aus, und es war sehr ruhig dort. Ich starrte auf die Lichtpartikel, die flimmernd in der Stille schwebten, und versuchte meine Empfindungen zu ergründen. Jeder sucht etwas bei jemand anderem. Dessen war ich mir sicher. Aber was kommt dann? Ich hatte keine Ahnung. Vor mir lag eine undurchdringliche Nebelwand.
Im Winter jobbte ich in einem kleinen Plattenladen in Shinjuku. Zu Weihnachten schenkte ich ihr eine Henry-Mancini-Platte, auf der auch Dear Heart war, eines ihrer Lieblingsstücke. Ich packte die Platte in mit Tannenbäumen bedrucktes Weihnachtspapier ein und band noch eine rosa Schleife darum. Sie schenkte mir ein paar selbst gestrickte Fausthandschuhe. Die Daumen waren ein bisschen zu kurz geraten, aber warm hielten sie trotzdem.
Sie fuhr in den Ferien nicht nach Hause, und daher aßen wir zu Neujahr zusammen in ihrer Wohnung.
In diesem Winter geschah eine Menge.
Ende Januar lag mein Mitbewohner zwei Tage mit fast vierzig Fieber im Bett, weshalb ich eine Verabredung mit ihr absagen musste. Er jammerte, als sei er dem Tode nah, sodass ich einfach nicht weggehen konnte. Wer sollte sich außer mir um ihn kümmern? Ich kaufte Eis und stellte aus Plastiktüten Eisbeutel her, wischte ihm den Schweiß ab und maß jede Stunde seine Temperatur. Einen ganzen Tag lang sank sein Fieber nicht; aber am Morgen des zweiten Tages sprang er aus dem Bett, als sei nichts gewesen. Seine Temperatur war wieder normal.
»Komisch«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich hatte noch nie im Leben Fieber.«
»Na, jetzt hattest du allerdings welches«, sagte ich und hielt ihm die beiden Freikarten für ein Konzert unter die Nase, die ich seinetwegen hatte verfallen lassen müssen.
»Wenigstens waren es Freikarten«, sagte er.
Im Februar schneite es viel.
Ende des Monats geriet ich in einen blöden Streit mit einem der älteren Studenten auf meinem Flur und verpasste ihm einen solchen Schlag, dass er mit dem Kopf gegen die Betonwand knallte. Glücklicherweise war er nicht ernstlich verletzt, aber ich wurde zum Leiter des Wohnheims zitiert und verwarnt. Von da an fühlte ich mich dort nicht mehr richtig wohl.
Ich wurde neunzehn, und mein zweites Studienjahr begann. In ein paar Kursen war ich durchgefallen, ansonsten bewegten sich meine Noten im unteren Mittelfeld, ganz wenige waren besser. Sie hatte sämtliche Scheine gesammelt, die sie brauchte, und ging mit weit besseren Noten in das neue Studienjahr. Der Kreis der Jahreszeiten hatte sich geschlossen.
Im Juni wurde sie zwanzig. Für mich war das schwer vorstellbar. Wir hatten es immer für das Schlauste gehalten, zwischen achtzehn und neunzehn hin- und herzupendeln. Nach achtzehn kam neunzehn, und nach neunzehn wieder achtzehn – das war für uns einleuchtend. Aber nun war sie zwanzig geworden. Und ich würde im nächsten Winter ebenfalls zwanzig werden. Nur unser toter Freund würde immer
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