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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Hauptgebäude lag am Weg. Kantine und Gemeinschaftsbad befanden sich im Erdgeschoss, die Aula, Gemeinschaftsraum und Gästezimmer im ersten Stock. Daran angrenzend stand ein drittes, ebenfalls zweistöckiges Wohnheimgebäude. Im ausgedehnten Garten versprühten rotierende Rasensprenger bei Sonnenschein funkelnden Regen. Hinter dem Hauptgebäude lagen ein Fußball- und Rugbyplatz sowie sechs Tennisplätze. Es fehlte also an nichts.
    Das einzige Problem (auch wenn nicht alle davon überzeugt waren, dass darin ein Problem lag) war, dass das Wohnheim von einer anrüchigen Organisation um einen ultrarechten Typen geleitet wurde. Ein Blick auf das Faltblatt für neue Studenten und die Hausordnung genügte, und man wusste Bescheid. Gründungsdevise des Wohnheims war die »Anwendung erzieherischer Grundsätze zur Förderung vielversprechender Talente zum Wohle und Nutzen der Nation«, und angeblich hatten zahlreiche gleichgesinnte Finanzgrößen dafür private Mittel beigesteuert. So lautete zumindest die offizielle Version, doch was hinter den Kulissen vorging, war mehr als undurchsichtig. Die Wahrheit kannte niemand, gemunkelt wurde jedoch von Steuerhinterziehung und Bodenspekulation. Im Grunde spielte es im Alltag keine Rolle. Jedenfalls lebte ich von Frühjahr 1967 bis Herbst 1968 in diesem Wohnheim. In praktischer Hinsicht war es vermutlich egal, ob es von Rechten oder Linken, von Heuchlern oder Schurken geleitet wurde.

    Jeder Wohnheimtag begann mit dem feierlichen Hissen der japanischen Fahne. Natürlich wurde dazu die Nationalhymne abgespielt. Fahnenhissen ist ebenso wenig von der Nationalhymne zu trennen wie der Sportpalastwalzer vom Sechstagerennen. Der Mast stand genau in der Mitte des Geländes, damit er von allen Fenstern aus zu sehen war.
    Zuständig für die Fahnenzeremonie war der Leiter des Ostgebäudes, in dem auch ich wohnte. Er war ein großer Mann um die fünfzig mit stechendem Blick und kurz geschorenem, grau meliertem Haar. Über seinen wettergegerbten Nacken zog sich eine lange Narbe. Es ging das Gerücht, er sei Absolvent der Nakano-Militärakademie. Als Adjutant fungierte ein Student. Wer dieser Student war, wusste niemand so genau. Er hatte einen Bürstenschnitt und trug immer seine Studentenuniform. Wie er hieß und in welchem Zimmer er wohnte, war unbekannt. Ich war ihm noch nie im Speisesaal oder im Bad begegnet. Vielleicht war er nicht einmal Student. Da er jedoch eine Studentenuniform trug, was hätte er sonst sein sollen? Neben dem Typ von der Nakano-Militärakademie wirkte er klein, dicklich und blass. So hissten die beiden jeden Morgen um sechs Uhr auf dem Hof das Banner der aufgehenden Sonne.
    Ich beobachtete diese Szene manchmal von meinem Fenster aus. Pünktlich mit der Sechs-Uhr-Sirene erschienen die beiden im Hof. Uniform brachte einen flachen Kasten aus Paulowniaholz mit, während Nakano-Militärakademie einen Sony-Kassettenrekorder unter dem Arm trug, den er am Fuße des Fahnenmastes abstellte. Uniform öffnete den Kasten, aus dem eine ordentlich gefaltete japanische Fahne zum Vorschein kam. Er reichte sie an Nakano weiter, der sie am Seil des Mastes befestigte. Uniform schaltete den Kassettenrekorder ein.
    Die japanische Nationalhymne ertönte.
    Die Fahne glitt den Mast hinauf.
    Bei »bis zum Fels der Stein geworden« hatte die Fahne etwa halbe Höhe erreicht, bei »tausend, abertausend Jahre blühe, Kaiserliches Reich« war sie oben angelangt. Bei klarem Himmel und frischer Brise boten die beiden, wie sie in strammer Haltung zur Fahne hinaufschauten, einen wahrhaft erhebenden Anblick.
    Am Abend passierte ungefähr das Gleiche, nur umgekehrt. Die Fahne glitt den Mast hinab und wurde in den Paulowniakasten gebettet. Denn in der Nacht wehte die Fahne nicht.
    Warum die Fahne abends eingeholt wurde, war mir unverständlich. Die Nation existiert schließlich auch in der Nacht, oder nicht? Und viele Menschen arbeiten in dieser Zeit. Es erschien mir ungerecht, dass die Nachtarbeiter nicht in den Genuss der flatternden Fahne kamen. Vielleicht war es Unsinn, sich darüber Gedanken zu machen, und wahrscheinlich kümmerte es außer mich kein Schwein. Es ist typisch für mich, dass ich mir über sinnlosen Kram den Kopf zerbreche.
    Den Hausregeln entsprechend wurden Erst- und Zweitsemester auf Doppelzimmer verteilt, während ältere Studenten Anspruch auf Einzelzimmer hatten. Die Doppelzimmer waren etwa sechs Tatami groß und schlauchartig. Gegenüber der Tür war ein Fenster mit

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