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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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war, als hätte die Zeit zu fließen aufgehört. Auf dem Schreibtisch lagen ein Wörterbuch und eine französische Konjugationstabelle. Ein Kalender ohne Bilder oder Fotos, nur mit Zahlen, war mit Klebeband an der Wand befestigt. Er war völlig leer, ohne jeden Eintrag; kein Tag war markiert.
    Ich suchte meine Kleider zusammen, die vor dem Bett lagen. Das Hemd war vorn noch feucht und kalt von ihren Tränen. Ich hielt es mir ans Gesicht; es roch nach ihrem Haar.
    Auf einen Notizblock auf ihrem Schreibtisch schrieb ich: »Ruf mich bald an.« Dann verließ ich die Wohnung und schloss leise die Tür hinter mir.

    Die Woche verging, aber sie rief nicht an. Sie ging nicht ans Telefon, also schrieb ich ihr einen langen Brief, in dem ich ihr, so aufrichtig, wie ich nur konnte, meine Gefühle darzulegen versuchte. Es gibt da vieles, das ich nicht verstehe, schrieb ich, ich werde mich verflucht bemühen, alles zu kapieren, aber so etwas braucht seine Zeit, das musst du verstehen. Keine Ahnung, wohin ich unterwegs bin – ich weiß nur, dass ich mich nicht zu sehr in Grübeleien verheddern will. Dafür ist die Welt zu unsicher. Wenn ich anfange, über Ideen nachzugrübeln, zwinge ich vielleicht am Ende Menschen dazu, Dinge zu tun, die ihnen verhasst sind. Das könnte ich nicht ertragen. Ich möchte dich sehr gern wiedersehen, aber ich weiß nicht, ob das richtig ist …
    Einen Brief dieser Art schrieb ich.

    Anfang Juli erhielt ich eine kurze Antwort:

    Ich habe mich entschieden, mein Studium für ein Jahr zu unterbrechen. Offiziell lasse ich mich nur beurlauben, aber ich glaube nicht, dass ich noch einmal an die Universität zurückgehe. Morgen ziehe ich aus meiner Wohnung aus. Du findest das vielleicht überstürzt, aber ich habe schon länger mit dem Gedanken gespielt. Ich wollte dich um Rat fragen, habe es mehrmals auch fast getan, aber es nie geschafft. Wahrscheinlich hatte ich einfach Angst, davon zu sprechen.
    Mach dir bitte keine Sorgen wegen alldem, was geschehen ist. Egal was geschehen ist oder was nicht, wir wären in jedem Fall an diesem Punkt angekommen. Wenn dich meine Worte kränken, tut mir das sehr leid. Ich will damit nur sagen, dass du dir wegen mir keine Vorwürfe machen sollst, dir nicht und auch niemand anderem. Ich muss das wirklich mit mir selbst ausmachen. Seit einem Jahr schiebe ich es vor mir her, und ich weiß, dass auch du darunter zu leiden hattest. Vielleicht liegt all das nun hinter uns.
    In den Bergen bei Kyoto gibt es ein gutes Sanatorium, und ich habe beschlossen, für einige Zeit dorthin zu gehen. Es ist kein Krankenhaus, man kann dort tun, was man möchte. Irgendwann schreibe ich dir ausführlicher davon. Im Moment kann ich das nicht gut. Sogar diesen Brief schreibe ich jetzt zum zehnten Mal neu. Ich kann dir nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, dass du im letzten Jahr bei mir warst. Bitte, glaub mir das – mehr kann ich nicht sagen. Die Platte, die du mir geschenkt hast, werde ich immer wie einen Schatz betrachten.
    Sollten wir uns eines Tages in dieser unsicheren Welt wieder begegnen, kann ich dir vielleicht mehr erzählen als jetzt.
    Leb wohl.

    Ich muss ihren Brief hundert Mal gelesen haben, und jedes Mal überkam mich unsägliche Traurigkeit – genau jene undefinierbare Traurigkeit, die ich empfunden hatte, wenn sie mir in die Augen sah. Mit diesem Gefühl konnte ich nicht umgehen, es nicht einordnen. Wie der Wind hatte es weder Form noch Gewicht. Ich konnte mich nicht daran wärmen. Alles Äußere zog langsam an mir vorbei, die Stimmen anderer Menschen drangen nicht bis zu mir vor.
    Die Samstagabende verbrachte ich weiterhin auf meinem Stuhl in der Halle. Es würde kein Anruf kommen, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich schaltete den Fernseher ein und tat, als würde ich mir Baseballspiele ansehen. Dabei starrte ich nur in den unbestimmten Raum zwischen mir und dem Apparat. Ich teilte diesen Raum, teilte ihn noch einmal, immer wieder, bis er so klein war, dass er auf meiner Handfläche Platz gefunden hätte.
    Um zehn schaltete ich das Gerät aus, ging auf mein Zimmer und legte mich schlafen.

    Am Ende jenes Monats schenkte mir mein Mitbewohner ein Glühwürmchen in einem Instantkaffeeglas, in dem auch Grashalme und ein wenig Wasser waren. In den Deckel hatte er ein paar kleine Luftlöcher gebohrt. Draußen war es noch hell, und in diesem Licht sah das Glühwürmchen unscheinbar aus, wie irgendein schwarzes Insekt, das man am Strand finden könnte. Doch als ich

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