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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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bleiben, was er war – ein ewiger Siebzehnjähriger.
    An ihrem Geburtstag regnete es. Ich kaufte in Shinjuku eine Torte und fuhr zu ihrer Wohnung. Die Bahn war voll und schaukelte grässlich. Als ich ankam, glich die Torte einer römischen Ruine. Dennoch steckten wir zwanzig Kerzen darauf und zündeten sie an. Wir zogen die Vorhänge zu und schalteten das Licht aus, und auf einmal hatten wir eine richtige Geburtstagsparty. Sie öffnete eine Flasche Wein, wir aßen dazu von der zerkrümelten Torte und sonst noch ein paar Häppchen.
    »Irgendwie blöd, zwanzig zu werden«, sagte sie. Nach dem Essen räumten wir das Geschirr ab, setzten uns auf den Boden und tranken die Weinflasche aus. Während ich ein Glas trank, trank sie zwei.
    Sie redete an diesem Abend ungewöhnlich viel. Sie erzählte mir von ihrer Kindheit, ihrer Schulzeit, ihrer Familie. Alle diese Geschichten waren sehr lang und entsetzlich gewunden. Geschichte A verwandelte sich plötzlich in eine über B, und die führte bald zu etwas, das C betraf, und so weiter, und so fort. Kein Ende war abzusehen. Anfangs machte ich noch ab und zu eine höfliche Bemerkung, um ihr zu zeigen, dass ich zuhörte, aber irgendwann gab ich auf. Ich kümmerte mich um die Musik. Wenn eine Schallplatte zu Ende war, hob ich die Nadel und legte die nächste auf. Nachdem ich alle einmal durchgespielt hatte, fing ich wieder bei der ersten an. Draußen regnete es noch immer in Strömen. Träge floss die Zeit dahin, während sie redete und redete.
    Gegen elf wurde ich unruhig. Sie hatte mehr als vier Stunden ununterbrochen geredet. Allmählich wurde es Zeit für die letzte Bahn. Was sollte ich tun? Sollte ich sie reden lassen, bis sie von selbst aufhörte? Oder sie unterbrechen? Nach langem Zögern entschied ich mich für das Letztere. Vier Stunden mussten eigentlich genug sein.
    »Es wird allmählich spät, ich gehe lieber mal«, sagte ich. »Wir sehen uns bald wieder, ja?«
    Ich war mir nicht sicher, ob meine Worte sie erreicht hatten. Sie verstummte für einen kurzen Moment, setzte ihren Monolog aber gleich darauf fort. Ergeben steckte ich mir eine Zigarette an. Also würde ich den Dingen eben ihren Lauf lassen.
    Aber sie sprach nicht mehr lange; unversehens war sie am Ende angelangt. Der letzte Wortfetzen hing noch wie abgerissen in der Luft. Eigentlich war sie noch gar nicht fertig; die Worte hatten sich nur plötzlich verflüchtigt. Sie wollte weitersprechen, aber es kam nichts mehr. Unverwandt und mit halb geöffnetem Mund sah sie mich an. Ihre Augen wirkten wie verschleiert. Ich hatte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.
    »Ich wollte dich nicht unterbrechen«, sagte ich behutsam. »Aber es ist schon so spät …«
    Es dauerte keine Sekunde, bis ihr Tränen aus den Augen quollen, ihr über die Wangen liefen und auf eine Plattenhülle fielen. Nach den ersten Tropfen war der Damm gebrochen. Beide Hände vor sich auf den Boden gestützt, brach sie in so heftiges Schluchzen aus, dass es aussah, als müsste sie etwas hervorwürgen. Ich streckte sacht die Hand aus und berührte ihre bebende Schulter. Fast ohne es zu merken, zog ich sie an mich. Sie vergrub ihr Gesicht an meiner Brust und weinte lautlos weiter, bis mein Hemd von ihrem heißen Atem und ihren Tränen durchnässt war. Bald fuhren ihre Finger wie suchend über meinen Rücken. Ich hatte den linken Arm um sie gelegt und strich ihr mit der rechten Hand über das weiche, glatte Haar. Lange Zeit blieb ich so sitzen und wartete darauf, dass sie aufhörte zu weinen. Aber sie hörte nicht auf.

    In jener Nacht schlief ich mit ihr. Vielleicht war das angesichts der Situation das Beste, vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht, was ich sonst hätte tun sollen.
    Ich hatte schon sehr lange nicht mehr mit einem Mädchen geschlafen. Für sie war es das erste Mal. Ich fragte sie, warum sie nicht mit ihm geschlafen habe. Das hätte ich lieber lassen sollen. Ohne zu antworten, löste sie sich von mir, drehte sich auf die andere Seite und starrte aus dem Fenster in den Regen. Ich sah zur Decke und rauchte.

    Gegen Morgen hörte der Regen auf. Noch immer drehte sie mir den Rücken zu. Sie schlief. Oder vielleicht war sie auch die ganze Zeit wach; ich konnte es nicht feststellen. Wieder hüllte sie sich in Schweigen, wie vor einem Jahr. Eine Weile schaute ich auf ihren blassen Rücken, dann gab ich auf und stand auf.
    Auf dem Boden lagen noch die Plattenhüllen vom Abend, und auf dem Tisch stand der Rest der zerfallenen Torte. Mir

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