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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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genau hinsah, stellte ich fest, dass es ein Glühwürmchen war. Es versuchte, an der glatten Glaswand hinaufzuklettern, stürzte aber jedes Mal ab. Es war lange her, dass ich eines so aus der Nähe gesehen hatte.
    »Ich habs im Hof gefunden«, erklärte mir mein Mitbewohner. »Das Hotel da unten setzt doch als Attraktion für die Gäste immer Glühwürmchen aus, und dieses hat es wohl bis hier herauf geschafft.« Während er das sagte, packte er Kleidung und Notizhefte in eine Reisetasche. Die Sommerferien hatten bereits vor ein paar Wochen begonnen, und wir waren nahezu die Einzigen, die im Wohnheim geblieben waren. Ich wollte nicht nach Hause, und er hatte irgendein Praktikum absolviert; das war nun beendet, er konnte nach Hause fahren.
    »Schenk es doch einem Mädchen. Die freuen sich über so was.«
    »Danke, gute Idee«, sagte ich.

    Nach Sonnenuntergang herrschte Stille im Wohnheim. Die Fahne war eingeholt, und die Fenster der Kantine waren nur schwach beleuchtet. Weil nur so wenige Studenten da waren, schaltete man nur noch die Hälfte der Lampen ein. Die rechte Seite blieb dunkel, die linke war hell. Essensgeruch drang zu mir herauf. Frikassee.
    Ich nahm das Kaffeeglas mit dem Glühwürmchen und ging aufs Dach. Außer mir war niemand dort. Ein vergessenes weißes Hemd hing an der Leine und flatterte wie eine abgeworfene Haut im Abendwind. Ich kletterte die rostige Metallleiter in der Ecke des Dachs hinauf zum Wassertank. Die Sonne hatte den zylinderförmigen Tank den ganzen Tag über aufgeheizt, und er war noch warm. Ich ließ mich in einer Ecke nieder, lehnte mich gegen das Geländer und betrachtete den Mond, der in ein, zwei Tagen voll sein würde. Rechts von mir funkelten die Lichter von Shinjuku, links die von Ikebukuro. Die Scheinwerfer der Autos bildeten helle Lichterströme von einem Zentrum zum anderen, und gedämpftes Motorengebrumm hing wie eine Wolke über der Stadt.
    Das Glühwürmchen glomm auf dem Boden des Kaffeeglases, aber sein Licht war schwach und seine Farbe blass. Nach meiner Erinnerung leuchteten sie in der sommerlichen Dunkelheit kräftig und intensiv. Vielleicht war dieses Glühwürmchen schon zu geschwächt und würde bald sterben? Ich schüttelte das Glas ein paar Mal. Das Glühwürmchen flog kurz auf und prallte gegen die Glaswand. Aber sein Licht blieb trüb.
    Vielleicht leuchteten Glühwürmchen nur in meiner verklärenden Erinnerung so hell. Oder es war in meiner Kindheit draußen dunkler gewesen. Ich wusste es nicht mehr; ich wusste nicht einmal mehr, wann ich zum letzten Mal ein Glühwürmchen gesehen hatte.
    Woran ich mich erinnern konnte, war das Rauschen von Wasser in der Nacht – an eine alte Backsteinschleuse, die mit einer Kurbel geöffnet und geschlossen wurde, und an einen von Pflanzen überwachsenen Bach. Ringsum war es stockdunkel, und über der Schleuse flogen Hunderte von Glühwürmchen. Eine Masse aus gelbem Licht loderte über dem Wasser, als stünde es in Flammen.
    Wann war das nur gewesen? Und wo?
    Vergangenheit und Gegenwart vermischten sich.
    Ich schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch, um zur Ruhe zu kommen. Mir war, als würde ich, wenn ich die Augen fest geschlossen hielt, jeden Moment in die sommerliche Dunkelheit gesogen. Ich war zum ersten Mal nach Einbruch der Dunkelheit zum Wassertank hinaufgestiegen. Das Rauschen des Windes war deutlicher zu hören als sonst. Er war nicht stark, hinterließ jedoch sonderbarerweise eine deutliche Spur, als er an mir vorüberwehte. Langsam senkte sich die Nacht über die Erde. Trotz all der Großstadtlichter siegte allmählich die Nacht.
    Ich öffnete den Deckel des Glases, holte das Glühwürmchen heraus und setzte es auf den etwa drei Zentimeter breiten Rand des Wassertanks. Offensichtlich wusste das Glühwürmchen nicht recht, wie ihm geschah. Es krabbelte um eine Schraube herum und blieb mit einem Bein an einem Stück abgeblätterter Farbe hängen. Erst marschierte es nach rechts, bis es nicht weiterkam, dann zurück nach links. Mühsam erklomm es die Schraube und blieb eine Weile reglos und mehr tot als lebendig dort sitzen.
    An das Geländer gelehnt beobachtete ich das Glühwürmchen. Lange bewegten wir uns nicht. Nur der Wind strich über uns hinweg. In der Dunkelheit raschelten die dichten Blätter des Keyakibaumes.

    Ich wartete eine Ewigkeit.

    Viel später flog das Glühwürmchen auf. Als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, breitete es seine Flügel aus und schwirrte im nächsten Moment in die

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