Blinde Weide, Schlafende Frau
kannte, und ihre ausdrucksvollen schwarzen Augen hatten ihren einstigen Glanz verloren. Auch der Klavierstimmer wirkte jünger als seine Jahre, aber es ließ sich nicht leugnen, dass seine Haar schütter wurde. Auf der Fahrt sprachen sie zögerlich über das Übliche – die Arbeit, ihre Kinder, gemeinsame Bekannte, den Gesundheitszustand der Eltern.
Als sie in seine Wohnung kamen, ging er in die Küche, um Wasser aufzusetzen.
»Spielst du noch Klavier?«, rief sie mit einem Blick auf das Klavier im Wohnzimmer.
»Nur zu meinem Vergnügen. Und nur leichte Stücke. An schwierigere wage ich mich nicht mehr heran.«
Seine Schwester klappte den Klavierdeckel hoch und legte die Finger auf die verfärbten, viel benutzten Tasten. »Ich dachte immer, du wirst eines Tages ein berühmter Konzertpianist.«
»Die Musikwelt ist der Friedhof der Wunderkinder«, sagte er, während er Kaffee mahlte. »Natürlich war das damals nicht leicht. Die Vorstellung von der Pianistenkarriere aufgeben zu müssen war schon eine große Enttäuschung. Ich hatte das Gefühl, mein ganzes Leben bis dahin sei umsonst gewesen, und am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst. Anscheinend sind meine Ohren aber meinen Händen überlegen. Viele Leute sind begabter als ich, aber ein so gutes Gehör wie ich hat keiner. Gemerkt habe ich das erst im Studium. Inzwischen finde ich es besser, ein erstklassiger Klavierstimmer zu sein als ein zweitklassiger Pianist.«
Er nahm ein Päckchen Sahne aus dem Kühlschrank und goss sie in ein Porzellankännchen.
»Seltsamerweise macht mir das Klavierspielen mehr Spaß, seitdem ich mich aufs Klavierstimmen verlegt habe. Von Kind an hatte ich geübt wie verrückt, und natürlich war es toll, immer besser zu werden. Aber Spaß hat mir das Klavierspielen nie gemacht. Nicht ein einziges Mal. Ich spielte nur, um bestimmte Probleme zu lösen. Um Fehlgriffe zu vermeiden, um größere Fingerfertigkeit zu erlangen – um andere zu beeindrucken. Erst als ich den Plan, Pianist zu werden, aufgegeben hatte, begriff ich, wie wundervoll es sein kann, Klavier zu spielen. Und wie wundervoll Musik ist. Es war, als würde mir eine Last von den Schultern genommen, von der ich nicht einmal gemerkt hatte, dass ich sie mit mir herumschleppte.«
»Davon hast du mir nie etwas gesagt.«
»Nein?«
Seine Schwester schüttelte stumm den Kopf.
»Es war das Gleiche, als ich merkte, dass ich schwul bin«, fuhr er fort. »Dinge, die ich nie hatte verstehen können, wurden klar. Das Leben wurde danach viel leichter, als hätten sich die Wolken auf einmal geteilt und den Blick freigegeben. Als ich nicht mehr Pianist werden wollte und als ich mich als Homosexueller outete, habe ich viele enttäuscht. Aber nur so konnte ich zu mir zurückfinden, zu meinem wahren Ich. Ich möchte, dass du das verstehst.«
Er brachte seiner Schwester eine Tasse Kaffee ans Sofa. Dann setzte er sich mit seinem eigenen Becher neben sie.
»Vielleicht hätte ich mir mehr Mühe geben sollen, dich zu verstehen«, sagte sie. »Aber es wäre trotzdem besser gewesen, es uns vorher zu erklären, uns einzuweihen. Uns anzuvertrauen, was damals in dir vorging …«
»Ich wollte nichts erklären«, unterbrach er sie. »Ich wollte verstanden werden, ohne etwas erklären zu müssen, vor allem von dir .«
Sie sagte nichts.
»Ich konnte damals keine Rücksicht auf die Gefühle anderer nehmen. Ich konnte es mir einfach nicht leisten.« Seine Stimme bebte ein wenig, als er sich an jene Zeit erinnerte. Fast wäre er in Tränen ausgebrochen. Aber er hielt sich zurück und fuhr fort.
»Mein Leben veränderte sich damals in kürzester Zeit. Ich konnte mich nur festhalten, um nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Ich hatte solche Angst. Damals konnte ich niemandem etwas erklären. Ich hatte das Gefühl, von der Welt abzugleiten. Darum wollte ich nur, dass ihr mich versteht – und festhaltet. Ohne irgendwelche logischen Erörterungen und Erklärungen. Aber niemand …«
Seine Schwester schlug die Hände vors Gesicht. Lautlos begann sie zu weinen. Sanft legte er ihr die Hand auf die bebende Schulter.
»Es tut mir so leid«, schluchzte sie.
»Ist schon gut«, erwiderte er. Er goss sich etwas Milch in den Kaffee, rührte um und nahm langsam einen Schluck, um sich zu beruhigen.
»Kein Grund zum Weinen. Ich habe es ja auch nicht besonders gut gemacht.«
Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Warum hast du mich eigentlich ausgerechnet heute angerufen?«
»Heute?«
»Du hast zehn
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