Blinde Weide, Schlafende Frau
unvermittelte Aussage überraschte ihn, und zumindest im Moment fiel ihm nichts ein, was er dazu sagen sollte.
»Du wirst von nun an wahrscheinlich viele Frauen kennen lernen«, fuhr sein Vater fort. »Aber wenn es die falschen sind, vergeudest du nur deine Zeit. Das solltest du dir merken.«
Später tauchten im Kopf des jungen Mannes viele Fragen auf. War der Vater »seinen« drei Frauen schon begegnet? War Junpeis Mutter eine davon? Und was war dann mit den anderen beiden passiert? Allerdings konnte er seinem Vater diese Fragen nicht stellen. Wie gesagt, sie standen sich nicht nah genug, um über intime Themen zu sprechen.
Mit achtzehn zog Junpei nach Tokyo, um zu studieren. Er lernte auch Frauen kennen. Eine von ihnen hatte »wahrhaft Bedeutung« für ihn. Damals wie heute war er sich dessen absolut sicher. Doch ehe er seinen Gefühlen Ausdruck verleihen konnte (er brauchte von Natur aus länger als andere Menschen, um etwas in eine konkrete Form zu bringen), hatte sie seinen besten Freund geheiratet und war inzwischen Mutter eines Kindes. Vorläufig musste er sie aus der Auswahl, die das Leben für ihn bereithielt, ausschließen, sein Herz wappnen und ihre Existenz aus seinem Kopf verbannen. Also reduzierte sich die Anzahl der Frauen, die » Bedeutung« für ihn haben konnten, auf zwei – zumindest falls er sich die Theorie seines Vaters zu Eigen machte.
Sooft Junpei eine neue Frau kennen lernte, fragte er sich nun, ob sie zu den Frauen gehörte, die »wahrhaft von Bedeutung« für ihn waren. Jedes Mal stand er vor einem Dilemma, denn obwohl er hoffte (und wer tut das nicht?), der »Richtigen« zu begegnen, fürchtete er zugleich, seine wenigen verbliebenen Trümpfe zu schnell auszuspielen. Nachdem er beim ersten Mal gescheitert war, hatte Junpei das Vertrauen in seine Fähigkeit eingebüßt, seine Liebe zum richtigen Zeitpunkt und auf richtige Weise zu äußern. Er hielt sich nun für einen Menschen, der Wichtiges zugunsten von Unwichtigem versäumt. Immer wenn er daran dachte – und das war ziemlich oft –, sank sein Herz an einen lichtlosen, kalten Ort.
Kaum war er einige Monate mit einer Frau zusammen und entdeckte etwas an ihrem Charakter oder Verhalten, das ihm nicht passte oder auf die Nerven ging, und seien es auch nur Kleinigkeiten, verspürte er in einem Winkel seines Herzens eine gewisse Erleichterung. Unverbindliche, farblose Beziehungen zu wechselnden Frauen bestimmten daher sein Leben. Er war mit einer Frau immer irgendwie auf Probe zusammen, bis die Beziehung sich ab einem gewissen Punkt wie von selbst auflöste. Bei diesen Trennungen kam es nie zu Streitigkeiten oder zu Geschrei, vermutlich, weil er es von Anfang vermied, sich mit Frauen einzulassen, die er womöglich nicht so leicht loswerden würde. Mit der Zeit hatte Junpei einen Riecher für bequeme Partnerinnen entwickelt.
Er selbst konnte nicht beurteilen, ob ihm diese Fähigkeit angeboren war oder ob sie sich erst später herausgebildet hatte. Falls sie erworben war, verdankte er sie sicher dem Fluch seines Vaters. Während seines Examens kam es zu einem heftigen Streit mit seinem Vater, der zum völligen Bruch zwischen ihnen führte. Dennoch wurde die »Drei-Frauen-Theorie« seines Vaters, ohne dass ihr Ursprung je geklärt wurde, zu einer Zwangsvorstellung, die sein ganzes Leben beherrschte. Er dachte sogar einmal halb im Scherz daran, homosexuell zu werden, um vielleicht auf diese Weise dem idiotischen Zahlenspiel zu entkommen. Doch Junpeis sexuelles Interesse beschränkte sich in guten wie in schlechten Zeiten eben doch auf Frauen.
Die Frau, die Junpei damals kennen lernte, war, wie er bald erfuhr, älter als er, sechsunddreißig. Er selbst war einunddreißig. Einer seiner Bekannten hatte ein kleines französisches Restaurant an einer Tokyoter Ausfallstraße aufgemacht, und Junpei war zur Eröffnung eingeladen. Er trug ein dunkelblaues Seidenhemd von Perry Ellis und ein passendes sommerliches Jackett. Da der gute Freund, mit dem er sich dort treffen wollte, unerwartet absagte, musste Junpei sich allein die Zeit vertreiben. Er saß an der Bar und trank langsam ein großes Glas Bordeaux. Als er gerade gehen wollte und sich nach dem Besitzer umsah, um sich zu verabschieden, kam eine große Frau mit einem ihm unbekannten lila Cocktail in der Hand auf ihn zu. Sein erster Eindruck von ihr war ihre anmutige Haltung.
»Ich höre, Sie sind Schriftsteller. Stimmt das?«, fragte sie, einen Ellbogen auf die Theke
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