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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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zu einer geraden Linie aufeinander und machte zum ersten Mal ein ernstes Gesicht.
    »Was schätzen Sie denn?«
    Junpei schwenkte den Rotwein in seinem Glas einmal herum.
    »Geben Sie mir einen Tipp?«
    »Nein. Ist denn das so schwer? Menschen zu beobachten und zu beurteilen gehört doch zu Ihrem Beruf.«
    »Das ist nicht ganz richtig«, sagte er. »Ein Schriftsteller sollte beobachten, beobachten und nochmals beobachten und das Beurteilen auf den allerletzten Moment verschieben.«
    »So?«, sagte sie. »Gut, dann beobachten und beobachten und beobachten Sie mal und lassen Sie Ihre Phantasie spielen. Das verstößt doch sicher nicht gegen Ihre Berufsethik?«
    Junpei hob den Kopf und suchte noch einmal konzentriert nach verborgenen Hinweisen. Sie sah ihm in die Augen, und er sah ihr in die Augen.
    »Es ist nichts als eine mehr oder weniger unbegründete Vorstellung, aber ich halte Sie für eine Spezialistin«, sagte er. »Sie üben eine Tätigkeit aus, die nicht jeder machen könnte. Man braucht dazu ganz bestimmte Fähigkeiten.«
    »Volltreffer. Sie haben Recht, nicht jeder kann tun, was ich tue. Versuchen Sie, etwas konkreter zu werden.«
    »Hat es etwas mit Musik zu tun?«
    »Nein.«
    »Mit Mode?«
    »Nein.«
    »Mit Tennis?«
    »Nein«, sagte sie.
    Junpei schüttelte den Kopf. »Sie sind braun, gut durchtrainiert, Sie haben muskulöse Arme. Vielleicht treiben Sie viel Sport im Freien. Aber Sie wirken nicht wie jemand, der draußen arbeitet.«
    Kirie schob die Ärmel hoch, legte ihre bloßen Arme auf die Theke und drehte sie hin und her. »Sie kommen der Sache näher«, sagte sie.
    »Aber genau getroffen habe ich’s noch nicht.«
    »Ein paar kleine Geheimnisse sollte man sich nicht nehmen lassen«, sagte Kirie. »Und ich will Ihnen auch nicht den professionellen Spaß am Beobachten und Spekulieren verderben. Aber einen Hinweis gebe ich Ihnen: Es ist bei mir wie bei Ihnen.«
    »Wie bei mir?«
    »Das heißt, ich wusste schon von klein auf, was ich werden wollte. Wie Sie. Und es war nicht leicht, dort hinzukommen.«
    »Das ist gut«, sagte Junpei, »und sehr wichtig. Die Arbeit sollte ein Akt der Liebe sein, keine Vernunftehe.«
    »Ein Akt der Liebe«, sagte Kirie. Die Worte schienen sie zu beeindrucken. »Das ist eine wundervolle Metapher.«
    »Könnte es sein, dass ich Ihren Namen schon gehört habe?«, fragte Junpei.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich bin nicht gerade weltberühmt.«
    »Jeder fängt mal irgendwo an.«
    »Ganz recht«, sagte Kirie und lächelte. Dann wurde sie ernst. »Aber anders als in Ihrem Fall wird von mir von Anfang an Perfektion erwartet. Fehler kann ich mir nicht erlauben. Alles oder nichts, und nichts dazwischen. Keine zweite Chance.«
    »Das ist ja wohl ein weiterer Hinweis.«
    »Vielleicht.«
    Ein Kellner kam mit einem Tablett voller Champagnergläser auf sie zu. Sie nahm zwei und reichte Junpei eines davon. »Auf Ihr Wohl«, sagte sie.
    »Auf unsere Arbeit«, sagte er.
    Sie stießen miteinander an. Es klang leise und vertraulich.
    »Sind Sie übrigens verheiratet?«, fragte sie.
    Junpei schüttelte den Kopf.
    »Ich auch nicht«, sagte Kirie.

    In dieser Nacht schlief sie bei Junpei. Sie tranken Wein – ein Geschenk des Restaurants an die Gäste –, hatten Sex und schliefen ein. Als Junpei am nächsten Morgen gegen zehn aufwachte, war sie schon fort. Die Kuhle, die sie auf dem Kissen neben ihm hinterlassen hatte, kam ihm wie eine fehlende Erinnerung vor. Darauf lag ein Zettel: »Ich muss an die Arbeit. Ruf mich an, wenn du möchtest.« Dahinter stand ihre Handynummer.
    Er rief sie an, und am folgenden Samstag gingen sie essen. Sie tranken etwas Wein, hatten Sex in Junpeis Wohnung und schliefen ein. Wieder war sie am nächsten Morgen verschwunden. Es war Sonntag, aber wieder hatte sie eine kurze Notiz hinterlassen. »Ich verschwinde – muss arbeiten.« Junpei wusste noch immer nicht, um welche Art von Arbeit es sich handelte, aber offensichtlich musste Kirie früh anfangen. Und sie arbeitete – zumindest manchmal – auch sonntags.
    Den beiden fehlte es nie an Gesprächsthemen. Sie war intelligent, und man konnte sich über die verschiedensten Dinge mit ihr unterhalten. Sie las gern, aber kaum Romane, sondern Biographien, Geschichte, Psychologie und populäre naturwissenschaftliche Bücher. Daher besaß sie erstaunlich vielseitige Kenntnisse. Einmal verblüffte sie Junpei mit ihrem detaillierten Wissen über die Geschichte des Fertighauses.
    »Fertighäuser, aha!

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