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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nichts, an so was bin ich gewöhnt«, sagte Sachi.
    »Was hat der Mann gesagt?«, fragte der Stämmige.
    »Ich hab nichts verstanden«, sagte der Lange. »Außer Japse.«
    »Brauchst du auch nicht. Es war nicht von Bedeutung«, sagte Sachi. »Mal was anderes, hattet ihr denn eine schöne Zeit in Hanalei? Hat das Surfen Spaß gemacht?«
    »Toootal!«, sagte der Stämmige.
    »Es war voll super«, fügte der Lange hinzu. »Ich glaub, das hat mein Leben verändert. Echt!«
    »Das ist die Hauptsache. Genießt das Leben, solange es geht. Irgendwann kommt nämlich die Rechnung.«
    »Kein Problem. Ich hab ja die Karte«, sagte der Lange.
    »Ja, so macht man was aus sich«, sagte Sachi und schüttelte den Kopf. »Immer schön bequem.«
    »Übrigens wollten wir Sie mal was fragen«, sagte der Stämmige.
    »Was denn?«
    »Kennen Sie eigentlich diesen einbeinigen Japaner, den Surfer?«
    »Einen einbeinigen Surfer?« Sachi kniff die Augen zusammen und sah dem stämmigen Jungen ins Gesicht. »Nein, noch nie gesehen.«
    »Wir sind ihm zwei Mal begegnet. Er hat uns vom Strand aus beobachtet. Er hatte ein rotes Dick-Brewer-Brett dabei, und ihm fehlte das Bein von ungefähr hier an.« Der Stämmige zog mit dem Finger etwa zehn Zentimeter oberhalb seines Knies eine Linie. »Wie abgehackt. Als wir aus dem Wasser kamen, war er verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Wir hätten gern mit ihm geredet und haben ihn überall gesucht, aber er war nicht zu finden. Er ist ungefähr in unserem Alter.«
    »Welches Bein fehlt ihm? Das rechte oder das linke?«
    Der Stämmige überlegte. »Ich glaube, das rechte. Ja, ich bin sogar sicher.«
    »Auf jeden Fall das rechte«, bekräftigte der Lange.
    »Aha«, sagte Sachi und befeuchtete sich die Lippen mit einem Schluck Wein. Ihr Herz hämmerte. »Seid ihr sicher, dass er Japaner ist? Er könnte Amerikaner sein und nur japanischer Herkunft.«
    »Nein, auf keinen Fall. Den Unterschied sieht man doch gleich. Er ist aus Japan zum Surfen hier, genau wie wir.«
    Sachi biss sich auf die Lippen. Dann sagte sie mit heiserer Stimme: »Aber das ist doch seltsam. In einem so kleinen Ort kann man so jemanden doch gar nicht übersehen, nicht einmal, wenn man wollte. Einen einbeinigen Surfer aus Japan.«
    »Stimmt, das ist schon komisch«, sagte der Stämmige. »So jemand fällt ziemlich auf. Aber er war wirklich da. Ohne jeden Zweifel. Wir haben ihn beide ganz deutlich gesehen.«
    »Sie sitzen doch immer am Strand«, sagte der Lange zu Sachi. »Jeden Tag an dieser einen Stelle. Dort ganz in der Nähe stand er, auf einem Bein. Und hat uns angesehen. So gegen einen Baumstamm gelehnt. Da, wo die Picknicktische sind und die Eukalyptusbäume.«
    Wortlos nahm Sachi einen Schluck von ihrem Wein.
    »Wie er es wohl schafft, auf einem Bein auf dem Surfbrett zu stehen? Ich finde es ja schon schwer auf zweien«, sagte der Stämmige.
    Von nun an wanderte Sachi von morgens früh bis abends spät immer wieder den langen Strand entlang. Doch der einbeinige Surfer tauchte niemals auf. Sie fragte bei den Einheimischen herum, ob sie einen Surfer mit nur einem Bein gesehen hätten, doch alle schüttelten nur verwundert den Kopf. Nein, den hätten sie nicht gesehen, daran würden sie sich ganz bestimmt erinnern. Wie konnte jemand mit einem Bein überhaupt surfen?
    Am Abend vor ihrer Heimreise nach Japan packte Sachi ihre Sachen und ging zu Bett. Die Rufe der Geckos verbanden sich mit dem Rauschen der Wellen. Unversehens strömten ihr Tränen aus den Augen, doch erst als ihr Kissen schon ganz nass war, merkte sie, dass sie weinte. Warum kann ich meinen Sohn nicht sehen?, fragte sie sich schluchzend. Warum ist er diesen beiden Surfern erschienen und nicht mir? Das ist so ungerecht. Sie beschwor das Bild ihres toten Sohnes in der Leichenhalle. Wenn sie nur gekonnt hätte, sie hätte ihn geschüttelt, bis er aufwachte, und ihn angeschrieen: »Warum? Wie konntest du nur?!«
    Lange presste Sachi ihr Gesicht in das nasse Kissen, um ihr Schluchzen zu ersticken. Bin ich vielleicht einfach nicht fähig, ihn zu sehen?, fragte sie sich, aber sie wusste keine Antwort darauf. Sie wusste nur, dass sie diese Insel akzeptieren musste. Der freundliche japanischamerikanische Beamte hatte Recht gehabt: Sie musste die Dinge auf dieser Insel so akzeptieren, wie sie waren. Wie sie waren – ob nun gerecht oder ungerecht, und ob sie selbst fähig oder unfähig war. Am nächsten Morgen erwachte Sachi als gesunde Frau mittleren Alters, lud ihr Gepäck in

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