Blinde Weide, Schlafende Frau
den Kofferraum des Dodge und verließ Hanalei.
Acht Monate später begegnete sie zufällig dem stämmigen jungen Mann in Tokyo wieder, als sie auf der Flucht vor einem Schauer bei Starbucks in der Nähe der U-Bahn-Station Roppongi eine Tasse Kaffee trank. Er saß an einem der Nachbartische. Er sah adrett aus in seinem gebügelten Hemd von Ralph Lauren und den neuen Chinos. Ein zierliches, hübsches Mädchen war bei ihm.
»Was für ein Zufall!« Strahlend kam er auf Sachi zu.
»Wie geht es dir?«, fragte sie. »Du hast ja ganz kurze Haare!«
»Ich stehe kurz vor dem Examen«, sagte er.
»Oh, das hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Ja, das habe ich einigermaßen unter Kontrolle«, sagte er und setze sich ihr gegenüber.
»Hast du mit Surfen aufgehört?«
»Am Wochenende gehe ich noch manchmal. Aber bald ist es aus damit. Wenn die Firmen ihre neuen Leute einstellen.«
»Was ist mit dem Lulatsch?«
»Der hat’s gut. Um eine Stelle braucht er sich keine Sorgen zu machen. Seinem Vater gehört eine große Konditorei in Akasaka. Er sagt, sie kaufen ihm einen BMW, wenn er den Laden übernimmt. So was nenne ich Glück!«
Sachi warf einen Blick aus dem Fenster. Der Asphalt war dunkel nach dem sommerlichen Schauer. Der Verkehr stand, und ein ungeduldiger Taxifahrer hupte.
»Ist das deine Freundin?«, fragte Sachi.
»Äh, ja, gewissermaßen. Ich arbeite noch daran.« Er kratzte sich am Kopf.
»Sie ist sehr hübsch. Da hast du sicher keine großen Chancen. Wahrscheinlich bekommst du nicht, was du willst.«
Unwillkürlich verdrehte er die Augen. »Sie sind immer noch so grauenhaft direkt. Aber Sie haben natürlich Recht. Hätten Sie nicht einen guten Rat für mich? Damit es mit ihr klappt …«
»Es gibt drei Methoden, um ein Mädchen rumzukriegen. Erstens, du hältst die Klappe und hörst ihr zu, zweitens, du lobst ihre Kleidung. Drittens, du lädst sie zu einem ausgezeichneten Essen ein. Ganz einfach, was? Und wenn nichts davon funktioniert, gibst du am besten auf.«
»Praktisch und leicht verständlich. Darf ich mir das notieren?«
»Klar, aber kannst du dir das nicht so merken?«
»Ich bin wie ein Huhn. Nach drei Schritten habe ich alles vergessen. Deshalb schreibe ich mir alles auf. Einstein soll das auch gemacht haben.«
»Aha, Einstein.«
»Vergesslich zu sein stört mich nicht. Nur das Vergessen nervt.«
»Ganz wie du meinst.«
Der stämmige junge Mann zog sein Notizbuch aus der Tasche und notierte gewissenhaft, was sie gesagt hatte.
»Danke, Ihre Ratschläge sind immer prima«, sagte er.
»Dann drück ich dir mal die Daumen, dass es klappt.«
»Ich werd mir Mühe geben«, sagte er und stand auf, um wieder an seinen Tisch zurückzugehen. Nach kurzem Zögern streckte er ihr die Hand entgegen. »Und Sie, machen Sie’s gut.«
Sachi nahm seine Hand. »Ich bin sehr froh, dass euch die Haie in der Hanalei Bay nicht gefressen haben.«
»Was? Da gibt’s Haie? Ernsthaft?«
»Ja«, sagte Sachi. »Ernsthaft.«
Jeden Abend sitzt Sachi am Klavier und lässt ihre Finger mechanisch über die achtundachtzig Tasten gleiten. Sie denkt an nichts anderes. Nur die Töne des Klaviers ziehen durch ihren Sinn – auf der einen Seite hinein und auf der anderen wieder hinaus. Wenn sie nicht spielt, denkt sie an die drei Wochen, die sie im Spätherbst in Hanalei verbringt. Sie denkt an das Rauschen der anrollenden Wellen und das Knarren der Eukalyptusbäume, an die Wolken, die auf den Passatwinden reisen, an die Albatrosse, die mit weit ausgebreiteten Flügeln am Himmel segeln. Und sie denkt an das, was sie dort vielleicht erwartet. An andere Dinge muss sie jetzt nicht denken. Nur an Hanalei Bay.
Der nierenförmige Stein, der jeden Tag wanderte
Junpei war sechzehn, als sein Vater ihm den einen entscheidenden Satz sagte. Auch wenn sie im biologischen Sinn Vater und Sohn waren, hatten sie kein sehr enges Verhältnis, und es kam eher selten vor, dass sein Vater ihn in seine Lebensphilosophie (wenn man es so nennen konnte) einweihte. Desto lebhafter blieb Junpei diese eine Gelegenheit im Gedächtnis. Was allerdings den Anlass zu diesem Gespräch gegeben hatte, wusste er nicht mehr.
»Ein Mann begegnet in seinem Leben nur drei Frauen, die wahrhaft Bedeutung für ihn haben, nicht mehr und nicht weniger«, sagte – oder besser: verkündete – sein Vater. Er sprach im Brustton der Überzeugung, als erkläre er, dass die Erde in einem Jahr einmal um die Sonne wandert. Junpei hörte schweigend zu. Die
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