Blinde Weide, Schlafende Frau
für Ihre Auslagen.«
Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ich nehme keine Gebühren, keine Geschenke oder Zahlungen jedweder Art entgegen. Das ist die Regel. Wenn ich Geld oder Geschenke annehmen würde, wäre das, was ich jetzt unternehmen werde, sinnlos. Für den Fall, dass Sie Geld übrig haben und sich unwohl fühlen, wenn Sie nichts bezahlen, schlage ich eine Spende für einen wohltätigen Zweck vor – für ein Kinderhilfswerk oder eine Krebshilfeorganisation. Falls Sie das erleichtern würde.«
Die Frau runzelte die Stirn, holte tief Luft und steckte den Umschlag wortlos zurück in die Tasche. Dann stellte sie die nun wieder wohlgerundete Louis Vuitton an ihren Platz. Die Frau rieb sich die Nase und sah mich an, wie ein Hund, auf dem Sprung, einen Stock zu apportieren.
»Das, was Sie jetzt unternehmen werden«, wiederholte sie mit etwas heiserer Stimme.
Ich nickte und wandte mich wieder dem ungespitzten Bleistift in der Schale zu.
Die Frau mit den High-Heels führte mich in ihr Apartmenthaus und zeigte mir die Tür zu ihrer Wohnung (Nr. 2609), dann die ihrer Schwiegermutter (Nr. 2417). Eine breite Treppe verband die Stockwerke, und es war klar, dass man auch bei langsamem Gehen nicht länger als fünf Minuten brauchte.
»Einer der Gründe, warum mein Mann diese Wohnung gekauft hat, war das breite, gut beleuchtete Treppenhaus«, sagte sie. »Bei den meisten Hochhäusern wird an den Treppen gespart. Breitere Treppen nehmen zu viel Platz weg, und ohnehin bevorzugen die meisten Bewohner den Fahrstuhl. Also geben die Bauherren ihr Geld lieber für spektakulärere Dinge aus – eine Bibliothek oder ein Marmorfoyer zum Beispiel. Mein Mann ist jedoch der Meinung, dass das Treppenhaus ein entscheidender Faktor ist – das Rückgrat eines Gebäudes, wie er zu sagen pflegt.«
Das Treppenhaus war wirklich bemerkenswert. Auf dem Absatz zwischen dem 24. und 25. Stockwerk stand ein Sofa für drei Personen, es gab dort einen großen Spiegel, einen Aschenbecher und eine Topfpflanze. Durch das großzügige Fenster sah man ein paar Wolken am blauen Himmel ziehen. Das Fenster ließ sich nicht öffnen.
»Gibt es zwischen allen Stockwerken einen solchen Raum?«, fragte ich.
»Nein, nur alle fünf Stockwerke gibt es einen Ruheraum. Möchten Sie unser Apartment und das meiner Schwiegermutter sehen?«
»Nein, das ist im Augenblick nicht nötig.«
»Seit mein Mann verschwunden ist, hat sich ihr nervlicher Zustand verschlechtert.« Sie machte eine abwinkende Handbewegung. »Es war ein schwerer Schock für sie, wie Sie sich denken können.«
»Natürlich«, stimmte ich ihr zu. »Wir sollten sie lieber nicht mit unseren Ermittlungen behelligen.«
»Das würde mir sehr helfen. Es wäre mir auch lieb, wenn die Nachbarn nichts von der Sache erführen. Ich habe noch niemandem etwas vom Verschwinden meines Mannes erzählt.«
»Einverstanden«, sagte ich. »Benutzen Sie übrigens auch die Treppe?«
Sie verneinte und hob leicht die Augenbrauen, als hätte ich sie kritisiert. »Ich benutze für gewöhnlich den Fahrstuhl. Wenn mein Mann und ich zusammen aus dem Haus gehen, geht er zu Fuß und ich fahre. Dann treffen wir uns im Foyer. Wenn wir zurückkommen, fahre ich im Aufzug vor und mein Mann kommt nach. Es wäre gefährlich, mit diesen Absätzen so viele Treppen zu steigen, und es ist mir zu anstrengend.«
»Verstehe.«
Da ich nun allein einige Nachforschungen anstellen wollte, bat ich sie, den Hausmeister zu informieren. »Sagen Sie ihm, dass der Mann, der zwischen der 23. und 25. Etage unterwegs ist, Untersuchungen für eine Versicherung durchführt. Es wäre unangenehm, wenn mich jemand für einen Einbrecher hielte und die Polizei riefe.«
»Ich sage ihm Bescheid«, erwiderte die Frau und ging die Treppe hinauf. Das Klacken ihrer Absätze klang wie das Annageln unheilvoller Thesen an eine Wand, dann wurde es immer leiser, bis es schließlich ganz verstummte. Ich war allein.
Als Erstes ging ich die Treppe zwischen dem 25. und 23. Stock drei Mal hinunter und hinauf. Das erste Mal ging ich in normalem Tempo, die anderen beiden Male verfuhr ich langsamer und nahm dabei alles sorgfältig in Augenschein. Um nichts zu übersehen, konzentrierte ich mich so sehr, dass ich fast das Blinzeln vergaß. Jedes Ereignis hinterlässt seine Spuren, und meine Aufgabe war es, sie zu entdecken. Allerdings war die Treppe so gründlich geschrubbt, dass kein Stäubchen zu sehen war. Kein Fleck, keine Delle, nichts. Nicht mal ein
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