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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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»Ich rauche nur ein paar Zigaretten am Tag, da dürfte es mir eigentlich nicht schwer fallen. Aber aus dem Haus zu gehen, Zigaretten zu kaufen, hierher zu kommen und sie zu rauchen lässt die Zeit schneller vergehen. Außerdem habe ich Bewegung und mache mir nicht so viele überflüssige Gedanken.«
    »Das heißt, Sie rauchen aus gesundheitlichen Gründen?«
    »Genauso ist es«, erwiderte der alte Mann ernst.
    »Sie sagten, sie wohnen im 25. Stock?«
    »Ganz recht.«
    »Kennen Sie Herrn Kurumizawa aus Nr. 2609?«
    »Ja. Er trägt eine Brille und arbeitet bei Salomon Brothers, nicht wahr?«
    »Merill Lynch«, berichtigte ich ihn.
    »Ach ja, bei Merill Lynch«, sagte der alte Mann. »Ich habe mich hier schon mit ihm unterhalten. Er setzt sich ab und zu hier aufs Sofa.«
    »Was macht er hier?«
    »Ich weiß nicht genau. Er sitzt einfach da und starrt vor sich hin. Anscheinend raucht er nicht.«
    »Meinen Sie, er denkt nach?«
    »Ich weiß nicht, ob man da einen Unterschied erkennen könnte – ich meine, ob einer ins Leere starrt oder nachdenkt. Denken tun wir doch eigentlich unentwegt, nicht wahr? Nicht dass wir leben, um zu denken, aber das Gegenteil ist auch nicht der Fall – dass wir denken, um zu leben, meine ich. Im Gegensatz zu Descartes bin ich der Ansicht, dass wir häufig denken, um nicht zu sein. In den leeren Raum zu starren hat vielleicht unbeabsichtigterweise die entgegengesetzte Wirkung. In jedem Fall eine schwierige Frage.« Der alte Mann nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
    »Hat Herr Kurumizawa mal berufliche oder häusliche Probleme erwähnt?«, fragte ich.
    Der alte Mann schüttelte den Kopf und ließ die Zigarette in den Aschenbecher fallen. »Wie Sie sicher wissen, fließt Wasser stets auf dem kürzesten Weg nach unten. Mitunter jedoch wird der kürzeste Weg erst vom Wasser geschaffen. Das menschliche Denken funktioniert auf ganz ähnliche Weise, zumindest ist das mein Eindruck. Doch ich habe Ihre Frage nicht beantwortet. Die Gespräche zwischen Herrn Kurumizawa und mir gingen nie in die Tiefe. Wir haben nur geplaudert – über das Wetter, die Statuten der Hausgemeinschaft und solche Dinge.«
    »Ich verstehe. Tut mir leid, wenn ich Sie aufgehalten habe«, sagte ich.
    »Manchmal brauchen wir keine Worte«, sagte der alte Mann, als hätte er mich nicht gehört. »Eigentlich sind es die Worte, die uns brauchen. Wenn wir nicht mehr da wären, würden die Worte ihren Sinn verlieren, meinen Sie nicht? Sie blieben unausgesprochen, und unausgesprochene Worte sind keine Worte.«
    »Genau meine Meinung«, sagte ich.
    »Das ist eine These, über die es sich immer wieder nachzudenken lohnt.«
    »Wie über ein Zen-Koan.«
    »Sie sagen es.« Der alte Mann nickte. Er hatte zu Ende geraucht und stand auf, um in seine Wohnung zurückzukehren. »Alles Gute«, sagte er.
    »Auf Wiedersehen«, sagte ich.

    Als ich am folgenden Freitag nach zwei Uhr auf dem Absatz zwischen dem 25. und 24. Stock ankam, saß ein kleines Mädchen auf dem Sofa, das sich im Spiegel ansah und sang. Sie war vielleicht gerade einmal in der ersten Klasse. Sie trug ein rosa T-Shirt und kurze Jeans. Auf dem Rücken hatte sie einen grünen Rucksack, und auf ihrem Schoß lag ein Hütchen.
    »Guten Tag«, sagte ich.
    Sie hörte auf zu singen. »Guten Tag«, antwortete sie.
    Ich hätte mich gern neben sie auf das Sofa gesetzt, aber wenn jemand uns sah, geriet ich vielleicht in einen ungerechten Verdacht. Um Abstand zu halten, lehnte ich mich lieber an die Fensterbank.
    »Ist die Schule schon zu Ende?«, fragte ich.
    »Ich will nicht über die Schule reden«, erklärte sie unmissverständlich.
    »Dann reden wir auch nicht davon«, erwiderte ich. »Wohnst du hier?«
    »Ja«, sagte sie. »Im 26. Stock.«
    »Aber du gehst doch nicht den ganzen Weg zu Fuß, oder?«
    »Doch, im Aufzug stinkt’s«, sagte die Kleine. »Und weil es so stinkt, gehe ich zu Fuß in den 26. Stock.« Sie betrachtete sich im Spiegel und nickte energisch. »Nicht immer, aber manchmal.«
    »Ist das nicht anstrengend?«
    Sie gab keine Antwort. »Weißt du, Onkel, von allen Spiegeln im Treppenhaus spiegelt der hier am besten. Viel besser als der Spiegel in unserer Wohnung.«
    »Wie meinst du das?«
    »Guck dich mal an«, sagte das kleine Mädchen.
    Ich machte einen Schritt auf den Spiegel zu und betrachtete mich eine Weile. Und tatsächlich, das Bild von mir, das der Spiegel zurückwarf, unterschied sich von dem in anderen Spiegeln. In diesem Spiegel wirkte ich ein wenig

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