Blinde Weide, Schlafende Frau
hin und her. Wenn ich müde wurde, ruhte ich mich auf dem Sofa aus, schaute in den Himmel vor dem Fenster oder betrachtete mein Bild im Spiegel. Ich war beim Friseur gewesen und hatte mir einen ordentlichen Haarschnitt verpassen lassen, hatte meine Wäsche gewaschen, was mich in die Lage versetzte, zu meinen Hosen passende Socken zu tragen, und die Gefahr minderte, dass hinter meinem Rücken über mich geredet wurde.
Trotz all meiner Bemühungen fand ich keine einzige Spur, was mich jedoch nicht entmutigte. Eine entscheidende Spur zu entdecken hat Ähnlichkeit mit der Abrichtung eines widerspenstigen Tieres. Man braucht Geduld und Zielstrebigkeit dazu, von Intuition gar nicht zu reden.
Da ich mich täglich in dem Gebäude aufhielt, fand ich heraus, dass noch andere Leute die Treppe benutzten. Ich fand Schokoriegelpapier zu Füßen des Sofas, Marlboro-Kippen im Aschenbecher, eine ausgelesene Zeitung.
Eines Sonntagnachmittags begegnete ich einem Mann, der dabei war, die Treppe hinaufzurennen. Er war verhältnismäßig klein, um die dreißig, machte ein ernstes Gesicht und trug einen grünen Jogging-Anzug, Asics-Laufschuhe und eine große Casio-Armbanduhr.
»Guten Tag«, rief ich ihm zu. »Hätten Sie einen Augenblick Zeit?«
»Natürlich«, sagte der Mann und drückte einen Knopf an seiner Uhr. Dann holte er mehrmals tief Luft. Sein Nike-Tanktop hatte einen Schweißfleck auf der Brust.
»Rennen Sie immer die Treppe hinauf und hinunter?«, fragte ich.
»Rauf ja, bis zum 31. Stock. Nach unten nehme ich den Aufzug, denn es ist gefährlich, Treppen hinunterzurennen.«
»Machen Sie das jeden Tag?«
»Nein, dazu bin ich zu beschäftigt. Aber am Wochenende drehe ich immer ein paar Runden. Und wenn ich früher von der Arbeit nach Hause komme, auch mal unter der Woche.«
»Wohnen Sie hier?«
»Klar«, sagte der Läufer. »Im 16. Stock.«
»Dann kennen Sie vielleicht Herrn Kurumizawa aus dem 25. Stock?«
»Herrn Kurumizawa?”
»Er ist Börsenmakler, trägt eine Brille mit Metallgestell von Armani und benutzt immer die Treppe. Er ist einsdreiundsiebzig groß und um die vierzig.«
Der Läufer überlegte kurz, dann erinnerte er sich. »Ach ja, der. Den kenne ich. Ich habe einmal mit ihm gesprochen. Beim Rennen komme ich manchmal an ihm vorbei. Auf dem Sofa habe ich ihn auch schon sitzen sehen. Er gehört zu den Leuten, die Fahrstühle hassen und nur die Treppe benutzen, stimmt’s?«
»Ja, das ist er«, sagte ich. »Gibt es außer ihm noch viele, die täglich die Treppe benutzen?«
»Viele nicht gerade«, erwiderte er. »Aber ein paar sind es schon, die regelmäßig die Treppe gehen, weil sie nicht gern Aufzug fahren. Es gibt noch zwei, die wie ich die Treppe hochrennen. Wir haben hier in der Nähe keine gute Möglichkeit zum Joggen, also muss die Treppe herhalten. Ein paar Leute gehen zu Fuß hoch, um sich in Form zu halten. Ich glaube, in diesem Haus benutzen mehr Leute die Treppen als in anderen Gebäuden, weil sie so breit, sauber und gut beleuchtet sind.«
»Kennen Sie vielleicht ein paar Namen?«
»Nein«, sagte der Läufer. »Ich kenne sie eigentlich nur vom Sehen. Wir grüßen uns, aber Namen und Adresse weiß ich von keinem. Immerhin ist das hier ein Hochhaus.«
»Verstehe. Vielen Dank für die Auskunft«, sagte ich. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie aufgehalten habe. Viel Spaß noch.«
Der Mann drückte den Knopf seiner Stoppuhr und rannte weiter.
Als ich am Dienstag auf dem Sofa saß, kam ein älterer Mann die Treppe herunter. Er war etwa Mitte siebzig, hatte graues Haar und eine Brille. Er trug Sandalen, eine graue Hose und ein langärmliges Hemd. Seine Garderobe war makellos sauber und sorgfältig gebügelt. Der alte Herr war groß und hielt sich gerade. Er wirkte wie ein kürzlich pensionierter Grundschulrektor auf mich.
»Guten Tag«, sagte er.
»Guten Tag«, antwortete ich.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Aber nein«, sagte ich. »Bitte sehr.«
Der alte Mann nahm neben mir Platz und zog ein Päckchen Seven Stars aus der Hosentasche. Er riss ein Streichholz an, entzündete seine Zigarette, blies das Streichholz aus und legte es in den Aschenbecher.
»Ich wohne im 25. Stock«, sagte er und stieß dabei langsam den Rauch aus. »Bei meinem Sohn und seiner Frau. Sie möchten nicht, dass ich in der Wohnung rauche, also komme ich hierher, wenn ich eine rauchen will. Rauchen Sie?«
»Ich habe vor zwölf Jahren aufgehört«, sagte ich.
»Ich sollte auch aufhören«, sagte der alte Mann.
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