Blinde Weide, Schlafende Frau
Zigarettenstummel im Aschenbecher.
Ermüdet von dem anstrengenden Treppauf-Treppab setzte ich mich für einen Moment auf das Sofa. Es war mit Kunststoff überzogen und ließ sich nicht gerade als hochwertig bezeichnen. Dennoch zeugte es von bewundernswerter Weitsicht seitens der Hausverwaltung, hier ein Sofa aufzustellen, wo es vermutlich kaum jemand benutzen würde. Gegenüber war der Spiegel. Seine Oberfläche war fleckenlos, und er war in einem Winkel angebracht, in dem er den Lichteinfall durch das Fenster optimal reflektierte. Unverwandt betrachtete ich mein Spiegelbild. Vielleicht hatte der Ehemann der Frau, der Börsenmakler, an jenem Sonntag hier ebenfalls eine Pause eingelegt und sein unrasiertes Gesicht im Spiegel angesehen.
Ich war natürlich rasiert, aber meine Haare wurden allmählich etwas zu lang. Hinter den Ohren ringelten sie sich wie das Fell eines langhaarigen Jagdhunds, der gerade durch einen Fluss geschwommen ist. Ich musste bald mal zum Friseur. Außerdem passten meine Schuhe farblich nicht zur Hose. Passende Strümpfe hatte ich auch nicht gefunden. Wahrscheinlich müsste ich einmal große Wäsche machen. Ansonsten sah ich aus wie immer: ein fünfundvierzigjähriger Junggeselle, der sich weder für Aktien noch für den Buddhismus interessiert.
Apropos Börsenmakler, ich glaube, auch Paul Gauguin war so etwas Ähnliches. Aber um sich ernsthaft der Malerei hinzugeben, verließ er eines Tages Frau und Kinder und brach nach Tahiti auf. Möglicherweise … Doch nein, Gauguin hatte bestimmt seine Brieftasche nicht zu Hause gelassen, und wenn sie damals American-Express-Karten gehabt hätten, hätte er seine sicher mitgenommen. Immerhin reiste er nach Tahiti. Außerdem hatte er garantiert nicht zu seiner Frau gesagt: »Mach schon mal die Pfannkuchen fertig, ich komme gleich«, bevor er verschwand. Jemand, der verschwinden will, muss systematischer vorgehen.
Ich erhob mich und dachte, während ich die Treppe hinaufging, über frische Pfannkuchen nach. Ich gab mir große Mühe, mich in die Szene hineinzuversetzen. Du bist ein vierzigjähriger Börsenmakler, es ist Sonntagmorgen, es regnet wie verrückt, und du bist auf dem Weg in deine Wohnung zu einem Stapel dampfender Pfannkuchen. Davon bekam ich immer mehr Appetit auf Pfannkuchen. Seit einem kleinen Apfel zum Frühstück hatte ich nichts gegessen.
Ich dachte sogar daran, zu Denny’s zu fahren und ein paar Pfannkuchen zu verspeisen, denn mir fiel ein, dass ich auf dem Weg hierher ein Schild »Denny’s« gesehen hatte. Die Pfannkuchen bei Denny’s sind nicht gerade Spitzenklasse (die Butter und der Ahornsirup entsprechen nicht meinen Anforderungen), aber ausnahmsweise hätte ich damit vorlieb genommen. Ehrlich gesagt, ich liebe Pfannkuchen. Allmählich lief mir das Wasser im Mund zusammen. Doch dann schüttelte ich energisch den Kopf und verscheuchte das Bild. Pfannkuchen kannst du später noch essen, sagte ich mir. Vorher hast du noch einiges zu erledigen.
Ich hätte die Frau nach den Hobbys ihres Mannes fragen sollen. Vielleicht malte er ja wirklich. Aber ein Mann, der die Malerei so liebte, dass er bereit war, dafür seine Familie zu verlassen, würde wahrscheinlich nicht jeden Sonntagmorgen Golf spielen. Wäre es vorstellbar, dass Gauguin, van Gogh oder Picasso in Golfschuhen auf dem 10. Grün knieten, um einen Putt zu berechnen? Auf gar keinen Fall.
Ich setzte mich wieder auf das Sofa und sah auf die Uhr. Es war 13 Uhr 32. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf einen Punkt in meinem Kopf. Ohne an etwas zu denken, überließ ich mich dem Treibsand der Zeit. Als ich die Augen wieder aufschlug und auf die Uhr sah, war es 13 Uhr 57. Fünfundzwanzig Minuten hatten sich irgendwohin verflüchtigt. Nicht übel, dachte ich. Sinnlos verstrichene Zeit. Gar nicht übel.
Abermals betrachtete ich mein vertrautes Ich im Spiegel. Ich hob die rechte Hand, mein Spiegelbild die linke. Ich tat, als würde ich die rechte herunternehmen, senkte aber dann rasch die linke. Mein Spiegelbild tat, als würde es die linke herunternehmen, senkte aber dann rasch die rechte. Genau wie es sich gehörte. Ich stand auf und ging 24 Stockwerke hinunter ins Foyer.
Von nun an suchte ich das Treppenhaus täglich gegen elf Uhr vormittags auf. Der Hausmeister und ich freundeten uns an (die Pralinen, die ich ihm mitbrachte, trugen dazu bei), und ich durfte frei im Gebäude herumstreifen. Insgesamt ging ich wohl zweihundert Mal zwischen der 23. und der 25. Etage
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