Blinde Weide, Schlafende Frau
verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen.«
»Sie waren natürlich bei der Polizei?«
»Selbstverständlich«, sagte sie und verzog ein wenig die Lippen. »Als er um ein Uhr mittags nicht zurück war, rief ich die Polizei an. Aber die haben überhaupt keine Anstalten gemacht, meinen Mann zu suchen. Ein Streifenpolizist vom zuständigen Revier kam vorbei, aber als er keine Anzeichen für ein Gewaltverbrechen entdecken konnte, verlor er sofort das Interesse. ›Warten Sie zwei Tage, und wenn Ihr Mann bis dahin nicht zurück ist, kommen Sie aufs Revier und geben eine Vermisstenanzeige auf‹, sagte er. Er schien zu glauben, dass mein Mann aus einer plötzlichen Eingebung heraus verschwunden ist, weil er sein Leben satt hatte. Aber überlegen Sie doch mal. Mein Mann ist ohne irgendetwas zu seiner Mutter hinuntergegangen, ohne Brieftasche, Führerschein, Kreditkarten, ohne Uhr. Er hatte sich nicht einmal rasiert. Und er hatte kurz angerufen und mich gebeten, die Pfannkuchen fertig zu machen. Das würde doch keiner tun, der vorhat, seine Familie zu verlassen. Oder?«
»Da haben Sie Recht«, pflichtete ich ihr bei. »Hat Ihr Mann übrigens immer die Treppe benutzt, wenn er in den 23. Stock hinunterging?«
»Ja, er hat nie den Fahrstuhl genommen. Er hasst Fahrstühle. Er kann die Enge nicht ertragen.«
»Und dennoch sind Sie in eine Wohnung im 25. Stockwerk gezogen?
»Ja. Mein Mann nimmt immer die Treppe. Es scheint ihm nichts auszumachen. Er sagt, sei ein gutes Training für die Beine und gut, um abzunehmen. Natürlich dauert es, bis man oben oder unten ist.«
Pfannkuchen, 10 Kilo, Treppe, Fahrstuhl , notierte ich. Ich stellte mir die fertigen Pfannkuchen und den Mann auf der Treppe vor.
»Das ist also der Stand der Dinge. Übernehmen Sie den Fall?«
Darüber brauchte ich nicht nachzudenken. Das war genau die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte. Ich tat jedoch so, als müsse ich in meinem Terminkalender nachsehen, und wühlte demonstrativ in ein paar Papieren. Wenn man einen Fall sofort übernimmt, wird der Klient misstrauisch.
»Heute Nachmittag passt es mir gut«, sagte ich und warf einen Blick auf meine Uhr. Es war 11 Uhr 35. »Könnten wir jetzt gleich mal zu Ihrem Haus fahren? Ich möchte mir die Stelle angucken, an der Sie Ihren Mann zuletzt gesehen haben.«
»Sehr gern«, sagte die Frau. Sie runzelte ein bisschen die Stirn. »Heißt das, Sie übernehmen den Fall?«
»Ja«, sagte ich.
»Aber wir haben noch gar nicht über Ihr Honorar gesprochen.«
»Ich nehme kein Honorar.«
»Wie bitte?« Sie starrte mich an.
»Ich mache das umsonst, ohne Honorar«, sagte ich und lächelte.
»Aber das ist doch Ihr Beruf?«
»Nein. Ich arbeite ehrenamtlich. Das heißt, ich werde nicht bezahlt.«
»Ehrenamtlich?«
»So ist es.«
»Aber Sie haben doch Auslagen …«
»Spesen brauche ich nicht. Ich bin rein ehrenamtlich tätig, also nehme ich keinerlei Bezahlung an.«
Die Frau starrte mich noch immer verständnislos an.
»Glücklicherweise bin ich finanziell unabhängig«, erklärte ich ihr. »Geld zu verdienen ist nicht mein Ziel. Ich habe ein ganz persönliches Interesse daran, verschwundene Menschen ausfindig zu machen.« Genauer gesagt, Menschen, die auf eine gewisse Weise verschwunden waren. Aber das zu erklären, hätte die Sache allzu sehr kompliziert. »Und ich bin recht kompetent darin.«
»Gibt es da einen religiösen Hintergrund? Hat es was mit Esoterik oder New Age zu tun?«, fragte sie.
»Nein, ich stehe in keinerlei Beziehung zu irgendeiner religiösen oder esoterischen Vereinigung.«
Die Frau warf einen Blick auf ihre Schuhe mit den spitzen Absätzen. Vielleicht plante sie, sie im Notfall als Waffe gegen mich einzusetzen.
»Mein Mann hat immer gesagt, angeblich kostenlosen Angeboten sei stets zu misstrauen«, sagte sie. »Entschuldigen Sie, das klingt unhöflich, aber er meinte, sie hätten immer einen Haken.«
»Im Allgemeinen würde ich ihm zustimmen«, sagte ich. »In einem spätkapitalistischen System wie unserem ist es immer verdächtig, wenn etwas kostenlos ist. Ganz klar. Dennoch hoffe ich, dass Sie mir Ihr Vertrauen schenken. Das ist die erste Voraussetzung, wenn Sie mir den Fall übertragen.«
Sie griff nach der Louis-Vuitton-Tasche neben sich, öffnete sie mit einem eleganten Klicken und nahm einen dicken verschlossenen Umschlag heraus. Ich konnte nicht sagen, wie viel darin war, aber es musste ein hübsches Sümmchen sein.
»Bitte, nehmen Sie das doch sicherheitshalber
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