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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Sie seufzte leise. »Es war am Abend des 1. Oktober vor drei Jahren, und es goss in Strömen.«
    Ich machte mir Stichpunkte. Schwiegervater, vor drei Jahren, Straßenbahn, starker Regen, 1. Oktober abends. Ich schreibe sehr gewissenhaft, also dauerte es eine Weile, bis ich mir alles notiert hatte.
    »Mein Schwiegervater war völlig betrunken. Sonst wäre er ja wohl kaum nachts im Regen auf den Straßenbahnschienen eingeschlafen.«
    Wieder verstummte sie und sah mich mit geschlossenem Mund an. Offensichtlich erwartete sie Zustimmung.
    »Er muss ziemlich betrunken gewesen sein«, sagte ich.
    »Bis zur Bewusstlosigkeit.«
    »Hat ihr Schwiegervater häufig so viel getrunken?«, fragte ich.
    »Ob er sich häufig bis zur Bewusstlosigkeit betrank, meinen Sie?«
    Ich nickte.
    »Er betrank sich ab und zu«, gab sie zu. »Aber nicht ständig, und nie so, dass er auf den Straßenbahnschienen einschlief.«
    Wie betrunken musste man wohl sein, um auf Straßenbahnschienen einzuschlafen? War dabei die Menge entscheidend, die jemand trank? Oder eher der Grund, aus dem er sich betrank?
    »Das heißt, er betrank sich zwar manchmal, aber nicht bis zum Umfallen?«, fragte ich.
    »Ja, so sehe ich das«, sagte sie.
    »Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
    »Sie möchten mein Alter wissen?«
    »Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Sie müssen nicht antworten.«
    Die Frau rieb sich mit dem Zeigefinger den Nasenrücken. Sie hatte eine hübsche, sehr gerade Nase. Ich vermutete, dass sie sie vor kurzem hatte operieren lassen. Ich hatte einmal eine Freundin mit der gleichen Angewohnheit. Nachdem sie sich die Nase hatte richten lassen, strich sie immer mit dem Zeigefinger darüber, wenn sie über etwas nachdachte, als würde sie sich vergewissern, dass ihre neue Nase noch an Ort und Stelle war. Der Anblick der Frau vor mir vermittelte mir ein leichtes Déjà-vu-Erlebnis, das seinerseits eine verschwommene Erinnerung an Oralsex heraufbeschwor.
    »Es gibt keinen Grund, es zu verschweigen«, sagte sie. »Ich bin fünfunddreißig.«
    »Und wie alt war ihr Schwiegervater, als er starb?«
    »Achtundsechzig.«
    »Was hat er gemacht? Beruflich.«
    »Er war Priester.«
    »Buddhistischer Priester?«
    »Ja, er gehörte der Schule des Reinen Landes an und leitete einen Tempel im Bezirk Toshima.«
    »Das war sicher ein großer Schock?«
    »Dass mein Schwiegervater von einer Straßenbahn überfahren wurde?«
    »Ja.«
    »Natürlich. Besonders für meinen Mann«, erwiderte die Frau.
    Ich notierte mir noch ein paar Dinge: Priester, Schule des Reinen Landes, 68.
    Die Frau saß am einen Ende meines Zweisitzersofas und ich auf dem Drehstuhl hinter meinem Schreibtisch. Zwischen uns lagen etwa zwei Meter. Sie trug ein knappes beifußgrünes Kostüm. Sie hatte sehr schöne Beine, und ihre Strümpfe passten ausgezeichnet zu ihren schwarzen High-Heels. Die Absätze erinnerten wirklich an tödliche Stilette.
    »Also«, sagte ich, »Sie sind wegen Ihres verstorbenen Herrn Schwiegervaters zu mir gekommen.«
    »Nein«, sagte sie und schüttelte mehrere Male entschieden den Kopf. »Es geht um meinen Mann.«
    »Ist Ihr Gatte auch Priester?«
    »Nein, er arbeitet bei Merrill Lynch.«
    »Der Investmentfirma?«
    »Genau«, erwiderte sie. In ihrem leicht missbilligenden Ton schwang die Frage mit, was es wohl sonst noch für ein Merill Lynch geben könne. »Er ist Börsenmakler.«
    Ich prüfte die Spitze meines Bleistifts und wartete darauf, dass sie fortfuhr.
    »Mein Mann ist der einzige Sohn, aber er interessierte sich mehr für die Börse als für Buddhismus. Darum hat er nicht die Nachfolge meines Schwiegervaters als leitender Priester im Tempel angetreten.«
    Das ist doch ganz selbstverständlich, oder?, schien ihr Blick zu sagen. Aber da ich mich weder für Börse noch für Buddhismus interessiere, reagierte ich nur mit einer unparteiischen Miene, die zugleich höchste Aufmerksamkeit signalisierte.
    »Nach dem Tod meines Schwiegervaters zog meine Schwiegermutter in ein Apartment im unserem Komplex in Shinagawa. Auf einer anderen Etage, aber im selben Gebäude. Mein Mann und ich wohnen im 25. Stock und sie im 23. Allein. Vorher hat sie mit meinem Schwiegervater im Tempel gelebt, aber als der neue Oberpriester ihn übernahm, musste sie ausziehen. Sie ist dreiundsechzig. Mein Mann ist vierzig, sollte ich Ihnen noch sagen. Er wird nächsten Monat einundvierzig, das heißt, wenn ihm bis dahin nichts zugestoßen ist.«
    Ich notierte: Schwiegermutter 23. Stock, 63, Mann

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