Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
denen er unsere Wohnung verlassen hat. Er hat einen Bart und über zwanzig Pfund abgenommen. Seine Brille hat er irgendwo verloren. Ich rufe jetzt aus einem Krankenhaus in Sendai an. Sie machen ein paar Untersuchungen – CT, Röntgen, neurologische Tests. Aber er scheint geistig völlig in Ordnung zu sein. Körperlich geht es ihm auch gut. Er kann sich nur nicht erinnern, was passiert ist. Er weiß noch, wie er die Wohnung seiner Mutter verlassen hat und die Treppe hinaufging. Danach reißt seine Erinnerung ab. Jedenfalls können wir wahrscheinlich morgen nach Toyko zurückfliegen.«
    »Das freut mich.«
    »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre bisherigen Nachforschungen, aber ich glaube, unter den gegebenen Umständen können wir sie einstellen, oder?«
    »Scheint so«, sagte ich.
    »So was total Verrücktes habe ich noch nie erlebt, aber zumindest habe ich meinen Mann gesund wieder. Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, dass das für mich das Wichtigste ist.«
    »Natürlich, ganz recht«, sagte ich.
    »Darf ich Ihnen Ihre Bemühungen wirklich nicht vergüten?«
    »Wie ich Ihnen schon bei unserer ersten Begegnung sagte, nehme ich keine wie auch immer geartete Bezahlung an. Bitte machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Ich nehme die Absicht für die Tat.«
    Schweigen. Ein erfrischendes Schweigen, voll des gegenseitigen Einverständnisses. Ich erhielt es aufrecht, um die Ruhe zu genießen.
    »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute«, sagte die Frau schließlich und legte auf. Ein undefinierbares Mitgefühl hatte in ihrem Ton mitgeschwungen.
    Auch ich legte auf. Eine Weile saß ich da, zwirbelte einen nagelneuen Bleistift in der Hand und starrte auf den leeren Notizblock vor mir. Er erinnerte mich an ein frisch gewaschenes Laken, das gerade aus der Wäscherei gekommen ist. Das Laken wiederum ließ mich an eine dreifarbige Katze denken, die sich behaglich zu einem Schläfchen darauf ausgestreckt hat. Ein Bild, das sehr zu meiner Entspannung beitrug. Dann schrieb ich aus dem Gedächtnis alle Einzelheiten, die die Frau erwähnt hatte, auf den Notizblock: Bahnhof Sendai, Freitagmittag, Telefon, 20 Pfund abgenommen, selbe Kleidung, Brille verloren, 20-tägige Gedächtnislücke.
    20-tägige Gedächtnislücke.
    Ich legte den Bleistift auf den Schreibtisch, lehnte mich zurück und starrte an die Decke. Die Balken hatten unregelmäßige Stellen, und wenn ich die Augen zusammenkniff, ließen sie die Decke aussehen wie eine Himmelskarte. Unverwandt betrachte ich diesen fiktiven Sternenhimmel und überlegte, ob ich aus gesundheitlichen Gründen wieder anfangen sollte zu rauchen. In meinem Kopf hallte das Klacken der hohen Absätze der Frau auf der Treppe wider.
    »Herr Kurumizawa«, sagte ich laut zu einem Winkel der Decke. »Willkommen in der realen Welt. Im goldenen Dreieck zwischen Ihrer Mutter mit den Angstzuständen, Ihrer Frau mit den eispickelspitzen Absätzen und Merill Lynch.«
    Ich werde wohl meine Suche anderswo fortsetzen. Meine Suche nach etwas, das vielleicht die Form einer Tür, eines Regenschirms, eines Doughnuts oder sogar eines Elefanten hat. Eine Suche, die mich, wie ich hoffe, dorthin führt, wo ich es vielleicht finde.

Der Affe von Shinagawa
    Ab und zu konnte sie sich nicht mehr an ihren Namen erinnern, vor allem, wenn sie unvermittelt danach gefragt wurde. Zum Beispiel wenn sie in einer Boutique ein Kleid kaufte, dessen Ärmel noch geändert werden mussten, und die Verkäuferin fragte: »Auf welchen Namen, bitte?« Oder es passierte ihr im Büro beim Telefonieren. Auf einmal war ihr Name wie weggeblasen. Sie wusste nicht mehr, wer sie war, und musste ihre Brieftasche hervorziehen, um im Führerschein nachzusehen, was natürlich höchst sonderbar wirkte. Die Leute am Telefon wunderten sich sicher auch über die Stille am anderen Ende der Leitung, wenn es um ihren Namen ging.
    Kein Problem war es, wenn sie ihren Namen von sich aus nannte. Solange sie innerlich darauf eingestellt war, hatte sie ihr Gedächtnis völlig unter Kontrolle. Aber unter Druck oder in Eile war es, als schlüge eine Klappe zu, und in ihrem Kopf herrschte vollständige Leere. Je panischer sie sich zu erinnern versuchte, desto mehr wurde sie in eine konturenlose Leere hineingesogen, in der ihr einfach nicht mehr einfallen wollte, wie sie hieß.
    Diese Vergesslichkeit beschränkte sich ausschließlich auf ihren eigenen Namen. An die Namen der Personen in ihrer Umgebung konnte sie sich immer erinnern. Auch ihre eigene Adresse, Telefonnummer,

Weitere Kostenlose Bücher