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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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»Waren Sie wirklich in Ihrem ganzen Leben noch nie eifersüchtig? Kein einziges Mal?«
    Mizuki machte eine Pause. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Noch nie.«
    »Das heißt, Sie wissen nicht, was Eifersucht ist?«
    »Im Großen und Ganzen schon, glaube ich – zumindest kann ich mir vorstellen, wie sie entsteht. Aber wie sie sich anfühlt, weiß ich nicht. Wie stark sie ist, wie lange sie anhält, wie sehr sie schmerzt.«
    »Ich verstehe«, sagte Frau Sakaki. »Eifersucht hat, um es kurz zu sagen, verschiedene Stadien. Wie alle menschlichen Gefühle. In ihrer leichteren Form nennt man sie Missgunst oder Neid. In unterschiedlichem Grade erleben die meisten Menschen dieses Gefühl in ihrem Alltag, bei der Beförderung eines Kollegen oder wenn jemand in der Klasse der Liebling des Lehrers ist oder die Nachbarn im Lotto gewonnen haben … Das ist nur Missgunst oder Neid. Man findet etwas ungerecht und ärgert sich. Das ist menschlich und völlig natürlich. Haben Sie so etwas noch nie empfunden? Waren Sie noch nie neidisch?«
    Mizuki überlegte. »Ich glaube nicht. Natürlich gibt es viele Menschen, denen es besser geht als mir. Das heißt aber nicht, dass ich neidisch auf sie bin. Ich setze einfach voraus, dass die Menschen verschieden sind.«
    »Und weil sie verschieden sind, kann man sie schwer vergleichen?«
    »Ja, so ungefähr.«
    »Aha, das ist interessant.« Frau Sakaki verschränkte ihre Hände auf dem Schreibtisch, und ihre gelassene Stimme klang amüsiert. »So weit also die leichten Formen der Eifersucht. Schwerere Fälle dagegen kann man nicht so einfach abtun. Extreme Eifersucht kann sich wie ein Parasit im Herzen eines Menschen festsetzen, oder, wie Ihre Freundin es ausdrückte, zu einem Tumor werden, der die Seele zerfrisst. In einigen Fällen kann sie sogar zum Tode führen. Menschen, die ihre Eifersucht nicht kontrollieren können, leiden Höllenqualen.«

    Als Mizuki nach Hause kam, holte sie den mit Klebeband versiegelten Karton aus dem Schrank, in dem sie die Namensschilder sowie alte Briefe aus der Schulzeit, ein Tagebuch, Fotos, Zeugnisse und alle möglichen Andenken aufbewahrte. Sie hatte ihn immer aussortieren wollen, war aber nie dazu gekommen, und so hatte sie bei jedem Umzug den ganzen Karton wieder mitgeschleppt. Aber der Umschlag mit den Namensschildern war nicht mehr da. Sie räumte den Karton vollständig aus, aber der Umschlag war einfach nicht zu finden. Mizuki konnte sich das nicht erklären. Als sie beim letzten Umzug kurz in den Karton hineingeschaut hatte, war er noch da gewesen. »Ach, die habe ich ja auch noch«, hatte sie damals gerührt gedacht. Seither hatte sie den Karton nicht mehr geöffnet. Deshalb musste der Umschlag doch da sein. Wohin war er bloß verschwunden?

    Seit Mizuki einmal in der Woche im Beratungszentrum mit Frau Sakaki sprach, beschäftigte das Namensproblem sie nicht mehr so stark. Sie vergaß ihren Namen zwar noch genauso häufig, aber die Symptome verschlimmerten sich nicht, und außer ihrem Namen verschwand nichts aus ihrem Gedächtnis. Vor peinlichen Situationen war sie durch ihr Armband gefeit. Dass sie hin und wieder ihren Namen vergaß, war inzwischen fast zu einem natürlichen Bestandteil ihres Lebens geworden.
    Mizuki verschwieg ihrem Mann die Beratungsstunden. Nicht dass sie ihm etwas verbergen wollte, aber sie hatte keine Lust, ihm die Einzelheiten zu erklären. Wie sie ihn kannte, würde er ganz bestimmt eine ausführliche Erklärung verlangen. Außerdem wirkte sich weder die Sache mit dem Namen noch die wöchentliche Therapiestunde störend auf ihn aus. Die Gebühren waren auch nicht der Rede wert. Mizuki sagte auch Frau Sakaki nichts vom Verschwinden der Namensschilder. Es tat ohnehin nichts zur Sache, fand sie.
    So vergingen zwei Monate, in denen sie jeden Mittwoch die Beratungsstelle im zweiten Stock der Stadtteilverwaltung von Shinagawa aufsuchte. Die Zahl der Ratsuchenden war gestiegen, sodass sie ihre einstündige Sitzung auf eine halbe Stunde verkürzen mussten. Doch da ihre Gespräche sich mittlerweile schon in geregelten Bahnen bewegten, kamen sie mit dieser Zeit aus. Manchmal hätte Mizuki gern länger geredet, aber bei der geringen Gebühr konnte sie keine Vorzugsbehandlung verlangen.
    »Wir hatten jetzt unsere neunte Sitzung«, sagte Frau Sakaki fünf Minuten vor Schluss. »Sie vergessen Ihren Namen zwar noch genauso häufig, aber nicht öfter, nicht wahr?«
    »Nein, daran hat sich nichts verändert«, antwortete

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