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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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gestorben, und ich muss zu seiner Beerdigung. In der Schule habe ich mich schon abgemeldet. Montagmorgen bin ich wahrscheinlich wieder hier. Könnte ich dir so lange mein Namensschild anvertrauen?«
    Sie zog es aus der Tasche und reichte es Mizuki, die es reichlich verwundert entgegennahm.
    »Natürlich bewahre ich es gern für dich auf, aber wieso machst du dir die Mühe? Du könntest es doch einfach bei dir in eine Schublade legen.«
    Yuko sah ihr tief in die Augen. So tief, dass es Mizuki etwas unbehaglich wurde.
    »Ich wünsche mir, dass du es diesmal für mich aufhebst«, sagte Yuko in entschiedenem Ton. »Etwas beunruhigt mich, und ich will es nicht in meinem Zimmer lassen.«
    »Na gut«, sagte Mizuki.
    »Ich will nicht, dass ein Affe es klaut, wenn ich nicht da bin.«
    »Ich glaube, hier gibt’s keine Affen«, sagte Mizuki heiter. Es sah Yuko nicht ähnlich, solche Scherze zu machen. Yuko verließ Mizukis Zimmer und ließ ihr Namensschild, ihre unberührte Teetasse und eine eigentümliche Leere zurück.

    »Doch Yuko kam am Montag nicht zurück«, erzählte Mizuki der Beraterin. »Als ihre besorgte Klassenlehrerin bei den Eltern anrief, stellte sich heraus, dass Yuko gar nicht nach Hause gefahren war. Keiner ihrer Verwandten war gestorben, und folglich hatte es auch keine Beerdigung gegeben. Yuko hatte gelogen und war verschwunden. Am darauf folgenden Wochenende wurde ihre Leiche gefunden. Ich erfuhr davon, als ich am Sonntagabend aus Nagoya zurückkam. Yuko hatte Selbstmord begangen. Sie hatte sich irgendwo im Wald die Pulsadern aufgeschnitten und war verblutet. Niemand wusste, warum sie sich umgebracht hatte. Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden, und ihr Motiv blieb unklar. Ihre Zimmergenossin sagte, sie sei gewesen wie immer, habe nicht niedergeschlagen gewirkt oder so. Yuko hatte sich, einfach so, ohne Ankündigung umgebracht.«
    »Aber zumindest hat sie versucht, Ihnen etwas mitzuteilen, nicht wahr?«, sagte Frau Sakaki. »Deshalb ist sie zu Ihnen aufs Zimmer gekommen und hat Ihnen ihr Namensschild anvertraut. Und Ihnen von ihrer Eifersucht erzählt.«
    »Ja, das ist sicher wahr. Im Nachhinein habe ich mir das auch überlegt. Sie wollte sich jemandem anvertrauen, bevor sie starb. Aber damals habe ich es nicht so wichtig genommen.«
    »Haben Sie jemandem davon erzählt, dass Yuko vor ihrem Tod noch einmal bei Ihnen war?«
    »Nein, niemandem.«
    »Warum nicht?«
    Mizuki neigte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube, ich dachte, es würde nur Verwirrung stiften. Niemand würde es verstehen. Und geholfen hätte es auch nichts.«
    »Sie meinen, öffentlich zu sagen, dass der Grund für Yukos Selbstmord vielleicht ihre nagende Eifersucht gewesen war?«
    »Ja, sicher hätten mich alle für gestört gehalten. Auf wen oder was hätte ein Mädchen wie Yuko Matsunaka schon eifersüchtig sein sollen? Die Stimmung war schon hysterisch genug, und ich hielt es für das Beste, den Mund zu halten. Sie können sich sicher die Atmosphäre in einem Mädchenwohnheim vorstellen? Ein Funke hätte genügt, um eine Explosion hervorzurufen – als würde man ein brennendes Streichholz in eine Gasflasche werfen.«
    »Was haben Sie mit dem Namensschild gemacht?«
    »Ich habe es noch. In einer Schachtel im Wandschrank, zusammen mit meinem eigenen Namensschild.«
    »Warum bewahren Sie es noch immer auf?«
    »Wegen des ganzen Aufruhrs verpasste ich irgendwie den richtigen Zeitpunkt, es zurückzugeben. Und je mehr Zeit verging, desto unangenehmer wurde es mir. Aber wegwerfen wollte ich es auch nicht. Außerdem war es ja vielleicht Yukos Wunsch, dass ich es aufbewahre. Immerhin hatte sie es mir eigens vor ihrem Tod anvertraut. Warum ausgerechnet mir, weiß ich nicht.«
    »Wirklich sonderbar. Sie waren ja nicht einmal eng befreundet, oder?«
    »Natürlich läuft man sich in einem so kleinen Wohnheim immer wieder über den Weg, grüßt sich, wechselt ein paar Worte«, sagte Mizuki. »Aber sie war in einer anderen Klasse, und wir hatten vorher nie über Persönliches miteinander geredet. Vielleicht kam sie zu mir, weil ich damals Wohnheimsprecherin war. Einen anderen Grund kann ich mir nicht vorstellen.«
    »Vielleicht hatte Yuko Matsunaka ein besonderes Interesse an Ihnen. Oder fühlte sich zu Ihnen hingezogen. Oder sie sah etwas ganz Bestimmtes in Ihnen.«
    »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Mizuki.
    Tetsuko Sakaki musterte sie eine Weile wortlos, als wolle sie sich einer Sache vergewissern.
    »Mal etwas anderes«, sagte sie dann.

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