Blinde Weide, Schlafende Frau
bis man einen Fortschritt erzielt. Nicht wie bei den Hörerfragen im Radio, wo die Anrufer mit einem ›Wir wünschen Ihnen alles Gute!‹ abgespeist werden. So etwas braucht Zeit, aber schließlich wohnen wir beide in Shinagawa und sind Nachbarn. Also wollen wir sie uns nehmen und unser Bestes tun.«
»Können Sie sich vielleicht an ein Ereignis in Ihrem Leben erinnern, das irgendetwas mit Namen zu tun hatte?«, fragte Tetsuko Sakaki zu Beginn der zweiten Sitzung. »Mit Ihrem eigenen Namen oder dem einer anderen Person? Der Name eines Haustiers vielleicht oder einer Gegend, in der Sie einmal waren. Oder ein Spitzname? Wenn Sie sich an irgendetwas in Zusammenhang mit einem Namen erinnern, erzählen Sie es mir.«
»Etwas, das mit Namen zu tun hat?«
»Ja, Namen, Namensgebung, Unterschriften, Aufrufe … Es muss nichts Schwerwiegendes sein. Vielleicht etwas ganz Banales, eine Kleinigkeit. Versuchen Sie sich zu erinnern.«
Mizuki überlegte lange.
»Eigentlich fällt mir da nichts Besonderes ein. Zumindest nicht auf Anhieb«, sagte sie. »Oh, doch, ich erinnere mich an etwas mit einem Namensschild.«
»Gut. Erzählen Sie mir davon.«
»Aber es war nicht meins«, sagte Mizuki. »Es gehörte jemand anderem.«
»Das macht nichts. Erzählen Sie bitte«, sagte Frau Sakaki.
»Wie ich letzte Woche erwähnt habe, war ich auf einer privaten Oberschule für Mädchen«, begann Mizuki. »Da wir in Nagoya lebten und die Schule in Yokohama war, wohnte ich dort im Internat und fuhr nur am Wochenende nach Hause. Freitagabends mit dem Shinkansen hin, am Sonntagabend zurück. Von Yokohama nach Nagoya braucht man nur zwei Stunden, also machte es mir nichts aus, allein zu fahren.«
Frau Sakaki nickte. »Aber gab es denn nicht auch in Nagoya gute Mädchenschulen? Warum schickte man Sie von zu Hause fort nach Yokohama?«
»Meine Mutter war auf dieser Schule. Es hatte ihr dort so gut gefallen, dass zumindest eine ihrer Töchter dorthin gehen sollte. Ich selbst fand es auch ganz gut, getrennt von meinen Eltern zu wohnen. Es war eine Missionsschule, aber eigentlich ging es dort ziemlich liberal zu. Ich habe mehrere gute Freundinnen gefunden. Sie kamen auch alle von woanders, und schon ihre Mütter waren auf der Schule gewesen. Alles in allem habe ich sechs lustige Jahre dort verbracht. Nur das Essen war ziemlich scheußlich.«
Frau Sakaki lächelte. »Sie sagten, Sie hätten noch eine ältere Schwester.«
»Ja, wir sind zu zweit. Sie ist zwei Jahre älter als ich.«
»Und Ihre Schwester ging nicht in Yokohama zur Schule?«
»Nein, sie ging auf eine Schule in der Nähe. Deshalb hat sie natürlich auch die ganze Zeit bei meinen Eltern gewohnt. Sie ist eher ein häuslicher Typ. Außerdem war sie von klein auf nicht so kräftig … Deshalb hat meine Mutter mich nach Yokohama geschickt. Ich war schon immer robust und viel unabhängiger als meine Schwester. Nach der Grundschule fragten meine Eltern mich, ob ich Lust hätte, in Yokohama zur Schule zu gehen, und mir kam es damals ziemlich verlockend vor, jedes Wochenende mit dem Shinkansen zu fahren.«
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe«, sagte Frau Sakaki und lächelte. »Bitte, fahren Sie fort.«
»Die meisten teilten sich zu zweit ein Zimmer, aber die höheren Klassen bekamen Einzelzimmer. Als diese Sache passierte, hatte ich schon ein Zimmer für mich. Ich war damals Wohnheimsprecherin. In der Eingangshalle gab es ein Brett, an dem kleine Schilder mit den Namen der einzelnen Schülerinnen hingen. Auf der Vorderseite stand der Name in Schwarz, auf der Rückseite in Rot. Wenn wir ausgingen, mussten wir das Schild umdrehen, wenn wir zurückkamen, genauso. Schwarz hieß, das betreffende Mädchen hielt sich im Wohnheim auf, Rot hieß, sie war ausgegangen. Blieben wir über Nacht weg oder waren wir für längere Zeit beurlaubt, wurde das Namensschild vom Brett entfernt. Die Schülerinnen wechselten sich an der Rezeption ab, und wenn eine angerufen wurde, genügte ein Blick auf das Brett, um zu sehen, ob die Betreffende im Haus war. Ein sehr praktisches System.«
Aufmunternd pflichtete Frau Sakaki ihr bei.
»Es war im Oktober. So um die Zeit kurz vor dem Abendessen. Ich war auf meinem Zimmer und machte Hausaufgaben, als Yuko Matsunaka, eine Schülerin aus der Achten, hereinschneite. Yuko war mit Abstand das hübscheste Mädchen im Wohnheim. Sie hatte helle Haut, langes Haar und ein wunderhübsches Puppengesicht. Ihre Eltern besaßen ein traditionelles japanisches
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