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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Mit der Taschenlampe leuchtete ich mir voraus, denn in jener Nacht war ein Taifun im Anzug, und der Mond verbarg sich hinter Wolken. Die rissen zwar hin und wieder auf, aber es wurde jedes Mal gleich wieder dunkel.
    In jener Nacht durchquerte ich den Korridor schneller als sonst. Die Gummisohlen meiner Basketballschuhe quietschten auf dem Linoleum. Es war ein grüner Linoleumboden, im Farbton von vertrocknetem Moos, daran erinnere ich mich noch deutlich.
    Auf halbem Weg führte der Korridor durch den Eingangsbereich der Schule. Als ich dort ankam, fuhr ich plötzlich zusammen. Mir war, als hätte ich bei einem Seitenblick in die Dunkelheit etwas gesehen. Ich packte mein Holzschwert fester, wandte mich in die verdächtige Richtung und leuchtete mit der Taschenlampe die Wand mit den Schuhregalen ab.
    Und da war ich. Beziehungsweise mein Spiegelbild. Am Tag zuvor hatte es an dieser Stelle noch keinen Spiegel gegeben, man hatte ihn wohl gerade erst angebracht. Aber ich erschrak sehr. Da hing ein Spiegel, der mich in ganzer Länge abbildete. Im nächsten Augenblick war ich erleichtert und kam mir gleichzeitig blöd vor. Peinlich, peinlich. Ich legte meine Taschenlampe auf dem Boden ab, nahm eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. Ich nahm einen Zug und betrachtete mein Spiegelbild. Durch ein Fenster drang etwas Licht von der Straßenbeleuchtung herein und fiel auf den Spiegel. Im Hintergrund knallte noch immer das Tor zum Schwimmbecken.
    Nach drei Zügen bemerkte ich etwas Sonderbares. Das Bild im Spiegel war nicht ich. Das heißt, äußerlich war ich es zweifellos, aber ich war es dennoch nicht, das spürte ich. Genauer gesagt, ich war es natürlich doch, aber es war ein anderes Ich, das außerhalb von mir existierte. Das es nicht hätte geben dürfen.
    Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es fällt mir schwer, dieses Gefühl zu beschreiben.
    Eins jedoch begriff ich: Mein Gegenüber verabscheute mich zutiefst. Sein Hass glich einem Eisberg auf einem tiefschwarzen Ozean. Es war ein Hass, den nichts und niemand hätte lindern können.
    Eine Weile stand ich fassungslos da. Die Zigarette entglitt meinen Fingern und fiel zu Boden. Auch im Spiegel fiel die Zigarette zu Boden. Wir starrten uns an. Ich war außerstande mich zu rühren, als wäre ich an Händen und Füßen gefesselt.
    Gleich darauf bewegte mein Gegenüber die Hand. Die Finger seiner rechten Hand berührten sein Kinn und krochen dann langsam wie ein Insekt über sein Gesicht. Unversehens tat ich das Gleiche, als wäre ich und nicht er das Spiegelbild. Das fremde andere Ich versuchte also, mich in seine Gewalt zu bekommen.
    Mit letzter Kraft schrie ich laut auf. »Uoh!!« und »Guah!!«, brüllte ich, und davon lockerten sich die Fesseln. Ich hob mein Holzschwert, schlug es gegen den Spiegel und rannte davon. Ich hörte das Klirren der Scherben hinter mir, drehte mich jedoch nicht um, sondern stürzte in mein Zimmer, schloss hinter mir ab und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Besorgt dachte ich an die brennende Zigarette, die ich auf dem Boden hatte liegen lassen, doch ich konnte unter keinen Umständen zurück. Die ganze Zeit über stürmte es draußen wie verrückt. Das Tor schlug bis zum Morgengrauen auf und zu. Ja, ja, nein, ja, nein, nein, nein …
    Wahrscheinlich habt ihr das Ende meiner Geschichte schon erraten. Es hatte nie einen Spiegel gegeben.
    Als der Morgen kam, verzog sich der Taifun. Der Sturm legte sich, und die Sonne warf ihr warmes helles Licht auf die Erde. Ich ging in die Eingangshalle. Meine Zigarettenkippe lag noch da. Mein Holzschwert auch. Aber keine Spur von einem Spiegel. Neben dem Schuhregal war nie einer gewesen.
    Ich habe also auch damals keinen Geist gesehen, sondern nur – mich selbst. Aber mein Entsetzen kann ich bis heute nicht vergessen. Das Furchterregendste auf der Welt für einen Menschen ist er selbst. Meint ihr nicht auch?
    Vielleicht ist euch aufgefallen, dass es in meinem Haus keinen einzigen Spiegel gibt. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich mich ohne Spiegel rasieren konnte, das könnt ihr mir glauben.

Ein modernes Volksmärchen für meine Generation
Aus der Vorgeschichte des Spätkapitalismus

    Ich bin 1949 geboren. 1961 kam ich in die siebte Klasse, 1967 begann ich mit meinem Studium, und meinen lang herbeigesehnten zwanzigsten Geburtstag erreichte ich auf dem Höhepunkt der Tumulte. Damit bin ich wohl ein typisches »Kind der sechziger Jahre«. In dieser verletzlichen, unreifen und doch

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