Blinde Weide, Schlafende Frau
wichtigsten Lebensphase sog ich die wilde Luft der sechziger Jahre ein, bis ich ganz trunken davon war. Damals kannten wir kein Morgen, und es gab so viele Türen, die einzutreten waren. Das zu tun war der absolute Wahnsinn! Und die Doors, die Beatles und Bob Dylan dröhnten im Hintergrund dazu.
Die sechziger Jahre waren etwas Besonderes. Davon bin ich heute noch ebenso überzeugt wie damals im Strudel der Ereignisse. Diese Zeit hatte etwas Besonderes. Aber wenn man mich fragt, was das Besondere, der Glanz dieser Zeit für mich – für meine Generation – sei, kann ich nur ratlos den Kopf schütteln oder eine banale Antwort zusammenstottern. Vielleicht ist dieses besondere Etwas letzten Endes nur an uns vorbeigezogen? Und wir waren nur Zuschauer im Banne eines spannenden, gut gemachten Films, den wir als so real erlebten, dass wir schweißfeuchte Hände davon bekamen und mit einem harmlosen erhebenden Gefühl das Kino verließen, als die Lichter angingen? Vielleicht hat uns etwas daran gehindert, wirklich Lehren daraus zu ziehen?
Ich weiß es nicht. Um diese Frage aufrichtig und unparteiisch zu beantworten, war ich selbst zu tief in die Ereignisse verstrickt.
Doch eins sollten Sie wissen: Ich will mich nicht damit brüsten, dass ich in dieser Zeit aufgewachsen bin. Ich will von einem Faktum berichten: Ja, diese Zeit hatte etwas Besonderes . Dabei ist mir klar, dass die damaligen Geschehnisse nicht an sich erwähnenswert oder einmalig sind. Der Wirbel dieser Epoche entfachte ein prasselndes Feuer der Verheißung, begleitet von einer schicksalhaften Erwartung, als würde man von der verkehrten Seite durch ein Teleskop schauen. Es gab alles: Helden und Schurken, Rausch und Desillusionierung, Märtyrertum und Verrat, allgemeine und spezielle Theorien, Schweigen und Beredsamkeit, extreme Langeweile etc. etc. … Diese Dinge gibt es natürlich zu allen Zeiten, auch jetzt und in der Zukunft. Doch zu unserer Zeit (wenn Sie mir den etwas übertriebenen Ausdruck gestatten) traten sie farbiger und überaus handgreiflich hervor. Sie standen in konkreter Form auf einem Regal aufgereiht vor uns, buchstäblich zum Greifen nah.
Versucht man hingegen heute, etwas zu begreifen, stößt man stets auf alle möglichen komplizierten Begleitumstände: versteckte Werbung, zweifelhafte Discountgutscheine, Paybackkarten, die man wegwerfen sollte, aber doch nicht wegwirft, und alle möglichen Optionen, die einem quasi aufgezwungen werden. Damals bekam man auch nicht zu allem unlesbare dreibändige Handbücher mitgeliefert. Das meine ich mit der konkreten Form , von der ich gesprochen habe. Früher konnte man einfach den Gegenstand an sich einpacken und nach Hause tragen. Wie man ein Huhn auf dem Markt kauft – einfach und unmittelbar. Ursache und Wirkung gingen Hand in Hand, Thesen und Wirklichkeit umarmten einander völlig selbstverständlich. Allerdings waren die Sechziger wahrscheinlich die letzte Epoche, in der die Dinge auf diese Art funktionierten.
Ich persönlich bezeichne diese Zeit als die »Vorgeschichte des Spätkapitalismus«.
Lassen Sie mich von den Mädchen erzählen. Und von uns, den jungen Männern, und dem wilden, glücklichen und traurigen Sex, den wir mit unseren nahezu nagelneuen Genitalien hatten.
Sprechen wir über die Jungfräulichkeit (ein Wort, das mich aus irgendeinem Grund immer an Felder an einem schönen Frühlingstag denken lässt).
Im Vergleich zu heute war Jungfräulichkeit in den Sechzigern von wesentlich größerer Bedeutung. Meiner Vermutung nach – natürlich habe ich keine Erhebung durchgeführt – hatte etwa die Hälfte der Mädchen bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr ihre Jungfräulichkeit verloren. Dieser Prozentsatz galt zumindest für mein näheres Umfeld. Das heißt, etwa die Hälfte der Mädchen behielten, ob bewusst oder unbewusst, ihre Jungfräulichkeit. Ich glaube, für die meisten Mädchen meiner Generation (man könnte sie gemäßigt nennen) war ihre Jungfräulichkeit ein schwieriges Thema. Sie hielten sie nicht unbedingt für wichtig, taten sie jedoch auch nicht als Unsinn ab. Daher ließen sie den Dingen einfach ihren Lauf und machten ihre Jungfräulichkeit von den Umständen oder ihrem Partner abhängig, was mir recht vernünftig erscheint.
Diese schweigende Mehrheit stand in der Mitte zwischen Liberalen und Konservativen, das heißt, zwischen Mädchen, die Sex für einen Sport hielten, und jenen, die sich ihre Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit bewahren wollten.
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