Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
nachts hatte ich nur zweimal eine Runde durch die Schule zu machen. Außerdem konnte ich im Musiksaal Platten hören, in der Bibliothek lesen und in der Turnhalle mit mir selbst Basketball spielen. Nachts allein in einer Schule zu sein ist nicht übel. Nein, unheimlich war es überhaupt nicht. Mit neunzehn, zwanzig weiß man ohnehin nicht, was Angst ist.
    Da vermutlich keiner von euch je als Nachtwächter in einer Schule gearbeitet hat, erkläre ich euch kurz meine Aufgaben. Wie gesagt, musste ich – laut Vorschrift – jede Nacht zweimal einen Rundgang machen, um neun Uhr abends und um drei Uhr morgens. Das zweistöckige Schulgebäude, ein ziemlich neuer Betonbau, war mit seinen achtzehn oder zwanzig Klassenräumen nicht besonders groß. Daneben gab es noch einen Musiksaal, einen Handarbeitsraum und einen Kunstsaal, ein Lehrer- und ein Rektorzimmer. Außerhalb des Gebäudes war die Kantine, ein Schwimmbecken, die Turnhalle und die Aula.
    Meine Runde führte an etwa zwanzig Kontrollpunkten vorbei, die ich abging und mit Kuli auf einer Liste abhakte. Lehrerzimmer – Haken. Physiksaal – Haken, und so fort. Natürlich hätte ich auch im Hausmeisterzimmer weiterschlafen und die Haken ohne Rundgang machen können. Doch so leichtfertig war ich nicht, und ich brauchte auch nicht sehr lange für eine Runde. Und falls jemand eingebrochen hätte, während ich schlief, hätte es sowieso mich erwischt.
    Also trabte ich jede Nacht brav um neun und um drei mit einer großen Taschenlampe in der linken und einem Holzschwert in der rechten Hand durch die Schule. Da ich in meiner Schulzeit Kendo trainiert hatte, verfügte ich über ein ansehnliches Selbstvertrauen. Von einem unausgebildeten Angreifer, selbst mit einem richtigen Schwert, hatte ich nichts zu befürchten – glaubte ich zumindest damals. Heutzutage würde ich mich natürlich sofort aus dem Staub machen.
    Es war eine stürmische Nacht Anfang Oktober. Es war nicht kalt, sondern eher schwül für die Jahreszeit. Abends wimmelte es von Moskitos. Ich weiß noch, dass ich ein paar Moskitospiralen anzündete, obwohl es schon fast Herbst war. Der Wind heulte. Das Tor zum Schwimmbecken war defekt und schlug geräuschvoll auf und zu. Ich überlegte, ob ich es reparieren sollte, hatte aber im Dunkeln keine Lust dazu. Also schlug es die ganze Nacht.
    Als ich um neun Uhr meine Runde drehte, geschah nichts Außergewöhnliches. Alle zwanzig Kontrollpunkte bekamen einen Haken. Alles war ordnungsgemäß verschlossen und wie es sein sollte. Nichts Auffälliges zu entdecken. Ich kehrte ins Hausmeisterzimmer zurück, stellte den Wecker auf drei und schlief ein.
    Als er um drei Uhr klingelte, wachte ich jedoch mit einem seltsamen Gefühl auf. Ich kann es nicht gut beschreiben, aber es äußerte sich darin, dass ich nicht aufstehen wollte. Irgendetwas schien meinen Willen aufzustehen zu unterdrücken. Da ich sonst sehr leicht aufstehe, war mir das unerklärlich. Fast gewaltsam raffte ich mich auf und machte mich auf den Weg. Das Tor zum Schwimmbecken schlug noch immer, aber das Knallen kam mir jetzt anders vor. Es klang fremd, unvertraut. Mir war gar nicht danach, meine Runde zu drehen, aber ich war fest dazu entschlossen. Fängt man erst mal an, sich zu drücken, tut man es immer wieder. Also verließ ich, mit Taschenlampe und Holzschwert bewaffnet, das Hausmeisterzimmer.
    Es war wirklich eine unangenehme Nacht. Der Wind war noch stärker und die Luft noch feuchter geworden. Meine Haut juckte, und ich konnte mich nicht richtig konzentrieren. Als Erstes nahm ich mir Turnhalle, Aula und Schwimmbecken vor. Alles in Ordnung. Das Tor schlug weiter auf und zu wie ein Wahnsinniger, der im Wechsel den Kopf schüttelt und nickt. Vollkommen unregelmäßig, ja, ja, nein, ja nein, nein, nein … Ein sonderbarer Vergleich, ich weiß, aber so kam es mir damals vor.
    Auch im Schulgebäude selbst fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. Alles war wie immer. Ich sah mich um und hakte einen Punkt nach dem anderen auf meiner Liste ab. Keine besonderen Vorkommnisse. Erleichtert trat ich den Rückweg ins Hausmeisterzimmer an. Letzter Punkt auf der Liste war der Heizungsraum neben der Kantine, an der Ostseite der Schule. Das Hausmeisterzimmer lag im Westen, also genau auf der entgegengesetzten Seite. Deshalb ging ich auf dem Rückweg immer durch den langen Korridor im Erdgeschoss, in dem es natürlich dunkel war. Nur wenn der Mond schien, fiel etwas Licht hinein, sonst sah man nicht die Hand vor den Augen.

Weitere Kostenlose Bücher