Blinde Weide, Schlafende Frau
Dusche warst, hast du genau das gesagt. Auch wenn du nicht an ein Flugzeug gedacht hast, hat dein Herz irgendwo in einem fernen, tiefen Wald bestimmt daran gedacht.«
Sie tippte leise mit dem Kuli auf den Tisch, schaute auf und sah ihm ins Gesicht.
Die beiden schwiegen. Der Kaffee vor ihnen wurde schlammig und kalt. Die Erde drehte sich, der Mond beeinflusste unmerklich die Schwerkraft und ließ die Gezeiten wechseln. Lautlos verrann die Zeit, auf den Geleisen fuhr ein Zug vorbei.
Beide dachten sie an das Gleiche: das Flugzeug. An das Flugzeug, das sein Herz im tiefen Wald geschaffen hatte. Sie dachten über seine Größe nach, über seine Form und Farbe, sein Ziel. Und über den Passagier. Sie dachten an ein Flugzeug, das im tiefen Wald auf jemanden wartete.
Kurz darauf weinte sie wieder. Es war das erste Mal, dass sie zweimal an einem Tag weinte. Und auch das letzte Mal. Es war für sie etwas Besonderes. Er streckte die Hand über den Tisch und strich ihr über das Haar. Es fühlte sich überaus real an: Wie das Leben selbst war es hart, glatt und weit entfernt.
Ja, dachte er. Damals klangen meine Selbstgespräche so, als sagte ich Gedichte auf.
Der Spiegel
Ich habe den Eindruck, dass die Geschichten, die wir einander erzählt haben, zwei Kategorien bilden. Beim ersten Typ geht es um die Welt der Lebenden auf der einen Seite und um die der Toten auf der anderen, hinzu kommen ominöse Kräfte, die den Übergang zwischen ihnen ermöglichen. Dazu gehören Geister und Ähnliches. Beim zweiten Typ kommen Phänomene oder übersinnliche Fähigkeiten in Form von Ahnungen und Vorahnungen ins Spiel, die über die Dreidimensionalität unserer Vernunft hinausgehen.
Eigentlich fallen so gut wie alle unsere Erlebnisse unter eine dieser beiden Kategorien. Das heißt, Menschen, die Geister sehen, sehen nur Geister und haben keine Vorahnungen, und solche, die Vorahnungen haben, haben nur Vorahnungen und sehen keine Geister. Warum das so ist, weiß ich nicht, es scheint sich um eine individuelle Veranlagung zu handeln. Das ist zumindest mein Eindruck.
Natürlich gibt es Menschen, die zu keiner dieser Kategorien gehören. Mich, zum Beispiel. Ich habe noch nie einen Geist gesehen und niemals eine Vorahnung gehabt. Einmal fuhr ich mit zwei Freunden im Aufzug, sie sahen einen Geist, und ich bemerkte überhaupt nichts. Eine Frau in einem grauen Kostüm soll direkt neben mir gestanden haben, aber eine solche Frau war nie eingestiegen. Wir waren nur zu dritt. Ganz ehrlich. Nun drängt sich natürlich der Verdacht auf, die beiden hätten sich einen Spaß mit mir erlaubt. Aber dazu ist keiner von beiden der Typ. Das Ganze war schon etwas unheimlich, hat aber an der Tatsache, dass ich noch nie einen Geist gesehen habe, nichts geändert. Mein Leben ist wirklich ausgesprochen prosaisch.
Ein einziges Mal allerdings geschah etwas, das mich bis ins Innerste verstörte. Es ist über zehn Jahre her, und ich habe bisher noch nie jemandem davon erzählt. Ich fürchtete, wenn ich davon spräche, würde ich es erneut heraufbeschwören, und darum habe ich es nie erwähnt. Doch als Hausherr kann ich den heutigen Abend, an dem ihr alle von einer unheimlichen Begebenheit berichtet habt, nicht beschließen, ohne selbst etwas zu erzählen. Also werde ich euch diese Geschichte erzählen.
Nein, nein, bitte keinen Applaus. Es ist nichts Großartiges.
Wie gesagt, weder ist mir jemals ein Geist erschienen noch besitze ich übernatürliche Fähigkeiten. Es kann sogar sein, dass die Geschichte nicht so schauerlich ist, wie es mir vorkommt. Es geschah jedenfalls Folgendes.
Als ich Ende der sechziger Jahre von der Schule abging, hatte die Studentenbewegung gerade ihren Höhepunkt erreicht. Auch ich wurde von dieser Woge erfasst und lehnte es ab, auf die Universität zu gehen. Stattdessen streifte ich einige Jahre durch Japan und schlug mich mit Gelegenheitsarbeiten durch. In meiner jugendlichen Naivität hielt ich diese Lebensweise für die richtige. Heute denke ich mit Vergnügen an dieses Leben zurück; ob es richtig war oder falsch, weiß ich nicht, aber hätte ich noch einmal die Wahl, würde ich wohl wieder das Gleiche tun.
Im zweiten Herbst meiner Wanderschaft arbeitete ich als Nachtwächter in einer kleinen Schule in Niigata. Den ganzen Sommer über hatte ich ziemlich geschuftet und wollte es mir nun ein bisschen leichter machen. Nachtwächter zu sein war ein ziemlich bequemer Job. Tagsüber konnte ich im Büro des Hausmeisters schlafen, und
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