Blinde Weide, Schlafende Frau
auf die Knie. Also habe ich nicht mehr mit mir selbst geredet, überhaupt nicht mehr. Irgendwann konnte ich es nicht mehr, selbst wenn ich gewollt hätte.«
Er wusste nichts darauf zu sagen und schwieg. Sie biss sich auf die Lippen.
»Sogar jetzt noch schlucke ich es sofort herunter, wenn mir etwas über die Lippen kommen will. Weil ich als Kind so ausgeschimpft wurde. Aber warum soll man eigentlich nicht mit sich selbst reden? Es ist doch nur natürlich, dass ein Mensch spricht. Würde meine Mutter noch leben, würde ich sie gern danach fragen. Warum darf man nicht mit sich selbst reden?«
»Ist sie gestorben?«
»Ja«, sagte sie. »Ich wünschte, ich hätte sie gefragt. Warum sie mir das angetan hat.«
Sie spielte mit dem Kaffeelöffel. Dann sah sie plötzlich auf die Uhr an der Wand. Im selben Augenblick fuhr draußen ein Zug vorbei.
Sie wartete ab, bis er vorbei war. »Manchmal denke ich, das Herz eines Menschen ist wie ein tiefer Brunnen. Niemand weiß, was auf seinem Grund ist. Man kann es sich nur anhand der Dinge vorstellen, die bisweilen an die Oberfläche treiben.«
Eine Weile dachten die beiden über den Brunnen nach.
»Was habe ich denn zum Beispiel zu mir selbst gesagt?«, fragte er dann.
»Hm, also«, sagte sie und drehte mehrmals langsam den Kopf, wie um sich der Beweglichkeit ihrer Wirbel zu vergewissern, »zum Beispiel etwas über Flugzeuge.«
»Flugzeuge?«
»Ja. Flugzeuge, die am Himmel fliegen.«
Er lachte. »Wieso spreche ich mit mir selbst über Flugzeuge?«
Sie lachte auch. Dann hielt sie beide Zeigefinger in die Höhe, wie um die Länge eines Gegenstands zu zeigen. Eine Angewohnheit von ihr. Manchmal tat er das jetzt auch, er hatte die Angewohnheit von ihr übernommen.
»Du sprichst auch ganz deutlich. Erinnerst du dich wirklich nicht daran?«
»Überhaupt nicht.«
Sie nahm einen Kugelschreiber, der auf dem Tisch lag, und drehte ihn ein bisschen zwischen den Fingern. Kurz darauf schaute sie wieder auf die Uhr. Der Zeiger war pflichtgemäß fünf Minuten weitergerückt.
»Du sprichst, als würdest du ein Gedicht aufsagen.« Bei diesen Worten errötete sie, was ihn ein bisschen verwunderte. Was war an seinen Selbstgesprächen so peinlich?
»Sag mir nicht
ich spreche zu mir
wie in einem Gedicht!« reimte er.
Sie griff wieder nach dem Stift. Ein gelber Plastikkuli, dessen Aufschrift auf das zehnjährige Bestehen einer Bankfiliale verwies.
Er deutete auf den Stift. »Könntest du es notieren, wenn ich nächstes Mal mit mir selbst rede?«
Sie sah ihm in die Augen. »Möchtest du es wirklich wissen?«
Er nickte.
Sie nahm einen Block zur Hand und begann mit dem Kuli darauf zu schreiben, langsam, aber ohne zu zögern oder innezuhalten. Das Kinn in die Hand gestützt, betrachtete er die ganze Zeit ihre langen Wimpern. Alle paar Sekunden blinzelte sie. Beim Anblick ihrer Wimpern – vor kurzem noch tränennass – überkam ihn wieder Verständnislosigkeit. Was hatte es überhaupt für einen Sinn, dass sie miteinander schliefen? Ein seltsames Gefühl von Verlust überkam ihn, als wäre ein Element eines komplizierten Systems so lange gedehnt worden, bis es unheimlich einfach geworden war: Vielleicht kann ich nie mehr irgendwo anders hin. Bei diesem Gedanken verspürte er fast unerträgliche Angst. Er hatte das Gefühl, seine Existenz, sein Selbst wäre im Begriff sich aufzulösen. Ja, er war noch jung und formbar wie Lehm, und er sprach mit sich selbst, als würde er Gedichte aufsagen.
Als sie fertig geschrieben hatte, schob sie ihm das Blatt über den Tisch. Er nahm es.
In der Küche hielt das Nachbild von irgendetwas Großem den Atem an. Wenn er mit ihr zusammen war, spürte er dieses Nachbild oft: das Nachbild von etwas Verlorenem, von etwas, an das er keine Erinnerung hatte.
»Ich erinnere mich an jedes Wort«, sagte sie. »Das hast mit dir selbst über ein Flugzeug gesprochen.«
Laut las er:
Flugzeug
Ein Flugzeug fliegt
Ich im Flugzeug
Das Flugzeug
Fliegt
Aber, obwohl es flog
Das Flugzeug
Am Himmel?
»Das alles?«, fragte er verblüfft.
»Ja«, sagte sie.
»Unglaublich, was? Dass ich so viel zu mir selbst sage und mich überhaupt nicht daran erinnern kann«, sagte er.
Sie kaute an ihrer Unterlippe. Dann lächelte sie kaum wahrnehmbar. »Aber du hast es gesagt, genau so.«
Er seufzte. »Komisch. Obwohl ich überhaupt nicht an Flugzeuge gedacht habe. Ich habe null Erinnerung daran. Wieso taucht da plötzlich ein Flugzeug auf?«
»Aber vorhin, als du in der
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