Blinde Weide, Schlafende Frau
Grunde fielen sie uns kaum auf. Offenbar wirkten sie nicht anregend auf unsere Phantasie. Sie waren einfach da wie das Wetter, und wer grübelt schon über den Regen oder den Südwind nach? Wir hatten andere, eigene Interessen zu verfolgen, lebendigere und aufregendere Dinge, die uns die Zeit zu bieten hatte. Zum Beispiel? Sex und Rock ’n’ Roll, Filme von Jean-Luc Godard, politische Bewegungen, die Romane von Kenzaburo Oe. Aber vor allem Sex. Wir waren ignorant, dafür aber arrogant, und hatten natürlich vom Leben keine Ahnung. In der Wirklichkeit gibt es Herrn und Frau Saubermann nicht, nur in der Fernsehwerbung. Kurzum, wir machten uns Illusionen, und die beiden machten sich ebenfalls Illusionen. Der Unterschied war gar nicht so groß.
Dies ist die Geschichte der beiden. Es ist keine sehr glückliche, und rückblickend lässt sich auch kaum eine Lehre daraus ziehen. Dennoch ist es ihre Geschichte und damit auch unsere. Das macht sie zu einer Art Volksmärchen, das ich als Erzähler zusammengefügt habe und nun, so gut ich kann, weitergeben will.
Mit seiner Geschichte rückte er erst nach ein paar Gläsern Wein heraus, nachdem wir vorher über alles Mögliche geredet hatten. Daher kann es sein, dass sie einer strengeren Wahrheitsprüfung nicht ganz standhalten würde. Ein paar Einzelheiten habe ich vergessen oder nicht mitbekommen und später aus meiner Phantasie eingeflochten. Um die lebenden Personen nicht zu kompromittieren, habe ich hier und da etwas geändert, ohne jedoch den Verlauf der Geschichte zu verfälschen. Im Grunde hat sich alles so oder so ähnlich abgespielt. Selbst wenn ich ein paar Details vergessen haben sollte, erinnere ich mich doch noch genau an den Tenor seiner Geschichte. Hört man sich jemandes Geschichte an und will sie dann niederschreiben, ist es das Wichtigste, den Tonfall wiederzugeben. Nur wenn es gelingt, den richtigen Ton zu treffen, entsteht eine echte Geschichte. Vielleicht stimmen nicht alle Fakten, aber möglicherweise erhöht das sogar die Authentizität. Andersherum betrachtet, gibt es viele Geschichten auf der Welt, die sich genauestens an die Fakten halten und dennoch nicht wahr sind. Solche Geschichten sind meist langweilig, manchmal sogar gefährlich. Ich kann sie schon von weitem riechen.
Vorsorglich möchte ich noch erwähnen, dass er nicht gerade ein begnadeter Erzähler war. Der Gott, der ihn so großzügig mit anderen Talenten überschüttet hatte, schien ihm die Gabe des Geschichtenerzählens nicht verliehen zu haben (ohne dass ich damit behaupten will, diese idyllische Kunst sei im realen Leben zu etwas nütze). Deshalb hätte ich, offen gestanden, während seiner Erzählung mehrfach fast gegähnt (was ich natürlich nicht tat), aber er verlor ständig den Faden und ritt endlos auf ein und derselben Sache herum. Oder es dauerte ewig, bis ihm bestimmte Tatsachen wieder einfielen, und wenn er sich schließlich daran erinnerte, kam er trotzdem nicht vom Fleck. Stück für Stück griff er Fragmente seiner Geschichte heraus, beäugte sie streng und legte sie, wenn er überzeugt war, dass sie passten, in einer Reihe nebeneinander auf den Tisch – nur meist in der falschen Reihenfolge. Als Romancier – als Fachmann sozusagen – habe ich mich bemüht, diese Bruchstücke chronologisch sinnvoll zu ordnen und zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen.
Wir trafen uns zufällig in Lucca, einem Städtchen in Italien. Ich lebte zu der Zeit in einer Mietwohnung in Rom. Während meine Frau etwas in Japan zu erledigen hatte, unternahm ich eine kleine Vergnügungsreise. Von Venedig über Verona, Mantua und Modena war ich nach Lucca gereist. Ich besuchte das hübsche, ruhige Städtchen schon zum zweiten Mal. Am Stadtrand gibt es ein Restaurant, in dem besonders köstliche Pilzgerichte serviert werden.
Er hatte beruflich in Lucca zu tun, und zufällig wohnten wir im selben Hotel. Die Welt ist klein.
An jenem Abend aßen wir zusammen im Restaurant, da wir beide allein unterwegs waren und uns ein wenig langweilten. Je älter man wird, desto langweiliger wird es, allein zu reisen. In der Jugend ist das anders – allein oder nicht allein, egal wohin, Reisen macht immer Spaß. Doch ab einem gewissen Alter ist das nicht mehr so; nur die ersten zwei oder drei Tage sind schön. Man verliert die Freude an der Landschaft, und die unbekannten Stimmen schmerzen in den Ohren. Kaum schließt man die Augen, steigen plötzlich alle möglichen unangenehmen Erinnerungen auf. Im
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