Blinde Weide, Schlafende Frau
sie noch immer am Gitter des Geheges und starrte auf die Kängurus.
»Es ist kein Baby mehr«, wiederholte sie.
»Meinst du wirklich?« Ich reichte ihr ein Eis.
»Sonst wäre es doch im Beutel seiner Mutter.«
Ich leckte an meinem Eis und nickte.
»Aber es ist nicht drin.«
Wir hielten Ausschau nach der Kängurumutter. Den Vater entdeckten wir sofort. Er war das größte und ruhigste von den Kängurus. Mit einer Miene wie ein Komponist, dem die Ideen ausgegangen sind, starrte er auf die grünen Blätter in der Futterkrippe. Die beiden Weibchen hatten die gleiche Größe und Farbe und auch den gleichen Ausdruck. Beide hätten die Mutter des kleinen Kängurus sein können.
»Welches ist wohl die Mutter?«, fragte ich.
»Hm.«
»Oder welches ist nicht die Mutter?«
»Keine Ahnung«, sagte sie.
Unberührt von dieser Frage sprang das junge Känguru umher und scharrte hier und da ohne erkennbaren Grund die Erde auf. Er/sie schien keine Langeweile zu kennen. Es hüpfte um seinen Vater herum, kaute ein paar grüne Halme, scharrte, neckte die beiden Weibchen, wälzte sich auf der Erde, sprang wieder auf und hopste weiter.
»Wieso Kängurus wohl so weit springen können?«, fragte sie.
»Um ihren Feinden zu entkommen.«
»Feinden? Was für Feinden?«
»Den Menschen«, sagte ich. »Sie töten die Kängurus mit dem Bumerang und essen ihr Fleisch.«
»Und warum klettern die Kängurubabys in den Beutel ihrer Mutter?«
»Um mit ihr zu fliehen. Die Kleinen können eben noch nicht so schnell springen.«
»Sie werden beschützt?«
»Genau«, sagte ich. »Alle Kleinen werden beschützt.«
»Wie lange werden sie so beschützt?«
Dass eine solche Batterie von Fragen auf mich zukommen würde, hätte ich vorhersehen und im Tierlexikon den Artikel über Kängurus nachlesen sollen.
»Ein, zwei Monate vielleicht.«
»Das Kleine ist einen Monat alt.« Sie deutete auf das Kängurubaby. »Also schlüpft es noch manchmal in den Beutel seiner Mutter.«
»Hmm«, machte ich. »Vermutlich.«
»Weißt du, es ist bestimmt ein tolles Gefühl, in so einem Beutel zu sein.«
»Bestimmt.«
Die Sonne stand hoch am Himmel. Kindergeschrei tönte aus dem benachbarten Schwimmbad herüber. Über den Himmel zogen scharf umrissene weiße Sommerwölkchen.
»Wollen wir was essen?«, fragte ich.
»Au ja, einen Hot Dog«, sagte sie. »Und Cola dazu.«
Der Hot-Dog-Verkäufer war ein junger Student, der einen Kassettenrekorder auf seinem Wagen hatte. Bis die Hot Dogs fertig waren, wurde ich mit Stevie Wonder und Billy Joel berieselt.
»Guck mal!«, rief meine Freundin, als ich zum Kängurugehege zurückkam, und deutete auf eines der Weibchen. »Es ist in ihrem Beutel.«
Tatsächlich hatte sich das Kleine im Beutel seiner Mutter (angenommen sie war es) zusammengerollt. Der Bauch wölbte sich nach außen, und kleine spitze Ohren und eine Schwanzspitze lugten daraus hervor. Es war ein reizender Anblick. Der Ausflug hatte sich gelohnt.
»Der Beutel muss doch schwer sein, oder?«
»Keine Sorge, Kängurus sind stark.«
»Wirklich?«
»Natürlich. Sonst hätten sie nicht bis heute überlebt.«
Trotz der prallen Sonne schien es der Kängurumutter nicht heiß zu werden. Sie sah aus, als hätte sie gerade ihre nachmittäglichen Einkäufe in einem Supermarkt auf der Aoyama-Straße erledigt und würde in einem Coffee Shop ein Päuschen einlegen.
»Sie beschützt es, oder?«
»Ja.«
»Ob das Kleine jetzt schläft?«
»Wahrscheinlich.«
Wir aßen unsere Hot Dogs und tranken unsere Cola dazu, dann gingen wir vom Kängurugehege fort.
Als wir aufbrachen, starrte der Känguruvater noch immer in die Futterkrippe und suchte nach den Noten, die ihm abhanden gekommen waren. Die Kängurumutter und das Kleine waren eins und ruhten im Fluss der Zeit, während das mysteriöse andere Weibchen im Gehege umherhopste, wie um die Elastizität seines Schwanzes testen.
Der Tag versprach ungewöhnlich heiß zu werden, so heiß wie schon lange nicht mehr.
»Wollen wir irgendwo ein Bier trinken?«, fragte sie.
»Klar«, sagte ich.
Zwergtaucher
Nachdem ich die enge Betontreppe hinuntergestiegen war, erstreckte sich vor mir ein gerader, anscheinend endloser Gang. Er war wirklich sehr lang und wirkte wegen der hohen Decke eher wie ein ausgetrockneter Abwasserkanal, schmucklos und äußerst nüchtern. Die in gewissen Abständen installierten Neonröhren waren von schwarzem Staub so verkrustet, dass es einem vorkam, als träfe ihr Licht erst nach allerlei
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