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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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schlimmen Missgeschicken trüb und flackernd an seinem Ziel ein. Außerdem war eine von drei Röhren durchgebrannt. Nicht einmal meine eigene Handfläche konnte ich richtig sehen. Im Halbdunkel des Korridors herrschte völlige Stille. Nur die Gummisohlen meiner Turnschuhe machten auf dem Betonboden ein seltsam tonloses Geräusch.
    Ohne zu denken, ging ich zwei-, dreihundert Meter, nein, vielleicht sogar einen Kilometer. Hier existierten weder Entfernungen noch die Zeit, und daher hatte ich zunächst nicht das Gefühl, vorwärts zu kommen. Aber ich musste wohl vorangekommen sein, denn plötzlich stand ich an einer T-förmigen Abzweigung.
    Eine T-förmige Abzweigung?
    Ich zog die zerknickte Postkarte aus der Jacketttasche und las die Nachricht noch einmal.
    »Gehen Sie den Korridor entlang, bis Sie am Ende auf eine Tür treffen«, stand auf der Karte. Ich nahm die Mauer vor mir genau in Augenschein. Nicht die Spur von einer Tür. Auch keinerlei Anzeichen, dass dort jemals eine Tür gewesen war oder jemals eine Tür sein würde. Es war eine ganz normale Betonmauer, ohne besondere Merkmale, außer eben denen einer Betonmauer. Keine metaphysische Tür, keine symbolische Tür, keine metaphorische Tür, nichts. Ich fuhr mit der Handfläche über die Mauer. Nichts als glatte Wand.
    Es musste sich wohl um einen Irrtum handeln.
    Gegen die Mauer gelehnt, rauchte ich eine Zigarette. Was nun? Weitergehen oder auf dem gleichen Weg zurück?
    Natürlich war ich nicht ernsthaft im Zweifel. Im Grunde gab es für mich keinen anderen Weg als den nach vorn. Denn ich hatte es satt, arm zu sein. Ich hatte meine monatlichen Verpflichtungen satt, den Unterhalt für meine geschiedene Frau, meine winzige Wohnung, die Kakerlaken im Bad, die U-Bahn im Berufsverkehr, alles. Endlich hatte ich einen guten Job gefunden. Die Arbeit war leicht, und angesichts der Bezahlung konnten einem die Augen übergehen. Zweimal Bonus im Jahr und einen langen Sommerurlaub. Das würde ich nicht einfach aufgeben, nur weil ich eine läppische Tür nicht fand. Ich würde eben so lange weitergehen, bis ich sie fand.
    Ich zog ein Zehn-Yen-Stück aus der Tasche, warf es in die Luft und fing es mit dem Handrücken auf. Dann schlug ich den Weg nach rechts ein.
    Der Gang bog zweimal nach rechts ab, einmal nach links, dann führten zehn Stufen hinunter. Die Luft erinnerte mich an gelierten Kaffee, kühl und von einer eigentümlichen Dichte. Ich dachte an das Gehalt und an ein angenehm klimatisiertes Büro. Eine Stelle zu haben war toll. Ich beschleunigte meine Schritte und eilte weiter den Gang entlang.
    Endlich tauchte eine Tür vor mir auf. Von weitem sah sie aus wie eine verblichene alte Briefmarke, aber je näher ich kam, desto mehr nahm sie die Gestalt einer Tür an, bis sie auf einmal eine Tür war.
    Nachdem ich mich einmal geräuspert hatte, klopfte ich sacht an, trat einen Schritt zurück und wartete. Fünfzehn Sekunden vergingen, ohne dass etwas geschah. Ich klopfte abermals, nun etwas fester, und trat wieder einen Schritt zurück. Keine Reaktion.
    Die Luft um mich herum verfestigte sich allmählich.
    Als ich, von Unsicherheit getrieben, einen Schritt nach vorn tat, um zum dritten Mal zu klopfen, schwang die Tür lautlos auf, und zwar so natürlich und reibungslos, als hätte ein Luftzug sie aufgestoßen. Dennoch hatte nicht die Natur ihre Hand im Spiel gehabt. Ich hörte das Klicken eines Lichtschalters, und ein Mann stand vor mir.
    Er war Mitte zwanzig und etwa fünf Zentimeter kleiner als ich. Sein frisch gewaschenes Haar tropfte, und er war in einen rotbraunen Bademantel gehüllt. Seine Füße waren unnatürlich weiß, und er hatte ungefähr Schuhgröße 38. Sein Gesicht war leer wie ein unbeschriebenes Blatt, aber sein Mund lächelte entschuldigend. Wahrscheinlich war er kein übler Kerl.
    »Verzeihen Sie, aber ich war gerade im Bad«, sagte der Mann.
    »Im Bad?« Automatisch warf ich einen Blick auf meine Uhr.
    »Das ist Vorschrift. Nach dem Mittagessen müssen wir baden.«
    »Aha«, sagte ich.
    »Darf ich fragen, was Sie wünschen?«
    Ich zog die Postkarte aus der Tasche meines Jacketts und reichte sie ihm. Damit sie nicht nass wurde, hielt der Mann sie mit den Fingerspitzen, während er den Text mehrmals durchlas.
    »Wahrscheinlich habe ich mich fünf Minuten verspätet«, entschuldigte ich mich.
    Er nickte und gab mir die Postkarte zurück. »Ich verstehe, Sie werden also hier arbeiten.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Ich habe nichts von einer Neueinstellung

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