Blinde Weide, Schlafende Frau
eben nicht aussuchen. Vielleicht ist er auch gar nicht so schrecklich, wie es mir vorkommt. Kranke Menschen wie ich werden leicht ein bisschen borniert.« Er zog ein Taschentuch hervor, schnäuzte sich bedächtig und leise die Nase und steckte es wieder ein. »Jedenfalls ist er auch noch an diversen anderen Firmen beteiligt und besitzt alle möglichen sonstigen Vermögenswerte. Mit einem Wort, er ist ein Macher . Genau wie mein Vater. Bei uns – in meiner Familie, meine ich – gibt es also zwei Typen: die Gesunden und die Kranken, die Funktionierenden und die nicht Funktionierenden. Die Gesunden produzieren Fliesen, mehren ihren Wohlstand, drücken sich vor der Steuer – bitte, sagen Sie das bloß keinem – und sorgen für die Kranken. Ein geniales System der Arbeitsteilung.«
Er hielt kurz inne und holte tief Luft. Dann trommelte er einen Moment mit den Nägeln auf der Tischplatte. Schweigend wartete ich, dass er weitersprach.
»Sie treffen alle Entscheidungen für uns, ordnen an, dass wir einen Monat hier, zwei Monate dort verbringen. Meine Mutter und ich sind wie der Regen, der mal hierhin, mal dorthin zieht.«
Die Wellen schlugen weiter gegen die Felsen und ließen weißen Schaum zurück. Sobald er sich auflöste, brandeten neue Wellen heran. Abwesend beobachtete ich diesen Ablauf. Im weißen Mondlicht warfen die Felsen unregelmäßige Schatten.
»Da die Sache, wie gesagt, arbeitsteilig funktioniert«, fuhr er fort, »haben natürlich auch meine Mutter und ich unsere Pflichten. Die Straße ist in beide Richtungen befahren. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich glaube, wir kompensieren ihren Überfluss, ihre Betriebsamkeit, mit unserem Mangel und Nichtstun. Darin besteht unsere Daseinberechtigung. Verstehen Sie, was ich meine?«
»So ungefähr«, erwiderte ich. »Aber ganz sicher bin ich mir nicht.«
Er lachte leise. »Eine Familie ist schon ein seltsames Gebilde«, sagte er. »Sie muss als Selbstzweck betrachtet werden, sonst funktioniert das System nicht. In diesem Sinne bin ich mit meinen nutzlosen Beinen eine Art Banner, um das sich die Familie schart … Meine Beine sind das Zentrum, um das sich alles dreht.«
Er trommelte wieder auf den Tisch, doch nicht aus Nervosität. Er bewegte seine Finger, während er ruhig und in seiner eigenen Zeitzone über die Dinge nachdachte.
»Meiner Theorie nach ist eine der wesentlichen Eigenschaften dieses Systems, dass Mangel zu größerem Mangel und Überfluss zu mehr Überfluss führt. Als Debussy einmal mit einem Stück nicht weiterkam, sagte er: ›Ich verbringe meine Zeit damit, das Nichts – rien – zu verfolgen, das es schafft.‹ Meine Aufgabe ist, diese Leere, dieses rien zu schaffen.«
Er versank wieder in sein Schweigen eines Schlaflosen, und seine Gedanken wanderten in ferne Sphären, vielleicht in die Leere in ihm. Am Ende kehrte er wieder zum Hier und Jetzt zurück, nur kam er offenbar an einem Punkt an, der im Verhältnis zu seinem Ausgangspunkt um ein paar Grade verschoben lag. Ich rieb mir über die Wange, und die Stoppeln verrieten mir, dass die Zeit noch in Bewegung war. Ich nahm die kleine Whiskeyflasche aus der Tasche und stellte sie auf den Tisch.
»Möchten Sie einen Schluck? Leider habe ich kein Glas«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich trinke keinen Alkohol. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren würde. Aber lassen Sie sich nicht abhalten. Es stört mich nicht, wenn andere trinken.«
Ich setzte die Flasche an und ließ mir den Whiskey langsam die Kehle hinunterrinnen. Für einen Moment schloss ich die Augen und genoss seine Wärme. Er beobachtete mich dabei.
»Vielleicht ist es eine sonderbare Frage, aber kennen Sie sich mit Messern aus?«, sagte er unvermittelt.
»Mit Messern?«
»Ja, mit Jagdmessern zum Beispiel.«
Ich hätte zwar beim Zelten ein Campingmesser und ein Schweizer Messer verwendet, sagte ich, aber von Auskennen könne keine Rede sein. Das schien ihn zu enttäuschen, aber nur vorübergehend.
»Macht nichts«, sagte er. »Ich habe nur zufällig ein Messer, das ich Ihnen gern zeigen würde. Ich habe es vor zwei Monaten nach einem Katalog bestellt. Leider habe ich keine Ahnung von Messern und weiß nicht, ob es etwas taugt oder ob ich Geld rausgeworfen habe. Darum hätte ich gern jemanden nach seiner Meinung gefragt. Nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Aber nein«, sagte ich.
Er zog einen etwa zwölf Zentimeter langen, schön geschwungenen Gegenstand aus der Tasche und legte
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