Blinde Weide, Schlafende Frau
einen Traum«, sagte der junge Mann im Rollstuhl. Seine Stimme klang seltsam hohl, als käme sie aus einem tiefen Loch. »Ich träume, ein scharfes Messer steckt in einem weichen Teil meines Kopfes, dort wo die Erinnerungen gespeichert sind. Es tut nicht weh, belastet mich auch nicht, es steckt nur dort. Ich stehe dabei und beobachte alles, als wäre ich jemand anderes. Ich möchte, dass jemand das Messer herauszieht, aber niemand weiß, dass es in meinem Kopf steckt. Ich will es mir selbst herausziehen, aber ich komme nicht dran. Es ist sehr sonderbar – ich kann auf mich einstechen, nicht aber das Messer aus mir herausziehen. Und dann verschwindet plötzlich alles. Auch ich löse mich allmählich auf. Nur das Messer bleibt bis zum Ende bestehen. Wie die Knochen eines prähistorischen Tiers am Strand. Solche Träume habe ich«, sagte er.
Känguruwetter
In dem Gehege befanden sich vier Kängurus, ein Männchen, zwei Weibchen und ein neugeborenes Junges.
Meine Freundin und ich standen ganz allein davor. Erstens war dieser Zoo ohnehin nicht sehr beliebt, und zweitens war Montagvormittag. Es gab mehr Tiere als Besucher. Ich übertreibe nicht, so war’s.
Wir wollten natürlich vor allem das Kängurubaby sehen, warum waren wir denn sonst im Zoo?
Rund einen Monat zuvor hatten wir aus der Zeitung von der Geburt des kleinen Kängurus erfahren, und seither warteten wir ungeduldig auf den richtigen Morgen für einen Besuch bei dem Kängurubaby. Aber ein solcher Morgen wollte einfach nicht kommen. Einmal regnete es, und am nächsten Tag regnete es prompt wieder. Danach war es natürlich zu matschig, und an den beiden folgenden Tagen blies ein ekelhafter Wind. An einem anderen Morgen hatte meine Freundin Zahnschmerzen, dann wiederum musste ich etwas auf dem Rathaus erledigen. Mit alldem will ich gar nichts Tiefsinniges sagen, außer vielleicht: So ist das Leben.
Jedenfalls verging ein Monat.
Ein Monat kann wie ein Augenblick verfliegen, und ich wusste kaum noch, was ich den ganzen Monat lang getrieben hatte. Einmal kam es mir vor, als hätte ich sehr viel erledigt, dann wieder, als hätte ich gar nichts getan. Erst als am Monatsende der Mann vorbeikam, der das Geld für die Zeitung kassiert, merkte ich, dass der Monat vorbei war. Ja, wirklich, so ist das Leben.
Doch endlich war der Morgen gekommen, an dem wir uns das Kängurubaby anschauen würden. Um sechs Uhr standen wir auf, zogen die Vorhänge auf und beschlossen, dass es ideales Känguruwetter war. In aller Eile wuschen wir uns, frühstückten, fütterten die Katze, machten ein bisschen Wäsche, setzten Sonnenhüte auf und zogen los.
»Ob das Kängurubaby überhaupt noch lebt?«, fragte mich meine Freundin in der Bahn.
»Bestimmt. Sonst hätte doch was in der Zeitung gestanden.«
»Vielleicht hat das Känguru einen Nervenzusammenbruch und hält sich versteckt.«
»Das Baby?«
»Nein, die Mutter! Vielleicht hat sie ein Trauma erlitten und versteckt sich mit dem Baby in einer dunklen Käfigecke.«
Frauen rechnen wirklich mit jeder Möglichkeit, dachte ich beeindruckt. Ein Trauma? Welche Art von Trauma konnte wohl ein Känguru erleiden?
»Wenn wir diese Gelegenheit verpassen, dann bekommen wir vielleicht nie wieder ein Kängurubaby zu sehen.«
»Kann sein.«
»Hast du schon mal ein Kängurubaby gesehen?«
»Nein, noch nie.«
»Meinst du, dass du noch mal eine Gelegenheit dazu bekommst?«
»Keine Ahnung.«
»Eben. Deswegen bin ich so besorgt.«
»Mag ja alles sein, aber ich habe auch noch nie die Geburt einer Giraffe gesehen«, wand ich ein, »und noch nie einen Wal im Meer. Warum ist da ein Kängurubaby jetzt so wichtig?«
»Weil es ein Kängurubaby ist. Darum«, sagte sie.
Resigniert schlug ich die Zeitung auf. Ich habe noch nie eine Debatte gegen eine Frau gewonnen.
Natürlich war das Kängurubaby noch am Leben. Inzwischen war es – er oder sie? – viel größer als auf dem Bild in der Zeitung und hopste munter im Gehege umher. Es sah eher aus wie ein kleines Känguru als wie ein Baby. Meine Freundin war enttäuscht.
»Es ist ja gar kein Baby mehr.«
»Doch, es ist noch eins«, versuchte ich sie aufzumuntern.
»Wir hätten viel früher kommen sollen.«
Ich legte einen Arm um ihre Hüfte und tätschelte sie. Sie schüttelte den Kopf. Ich hätte sie gern getröstet, aber wie? Dass das Känguru schnell gewachsen war, ließ sich nicht leugnen. Also hielt ich den Mund.
Als ich mit den beiden Schokoladeneistüten vom Kiosk zurückkam, stand
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