Blinde Weide, Schlafende Frau
ihn behutsam auf den Tisch.
»Keine Sorge«, sagte der junge Mann. »Ich habe nicht die Absicht, mich oder jemand anderen damit zu verletzen. Eines Tages überkam mich einfach der Wunsch nach einem scharfen Messer. Ich wollte einfach unbedingt eines haben. Also habe ich mir ein paar Kataloge angeschaut und eines bestellt. Niemand weiß, dass ich dieses Messer immer bei mir trage, nicht mal meine Mutter. Sie sind der Einzige, der es weiß.«
»Und ich reise morgen nach Tokyo ab.«
»Stimmt«, sagte er und lächelte.
Er nahm das Messer und wog es einen Moment lang bedeutungsvoll in der Hand. Dann schob er es mir über den Tisch hinweg zu. Das Messer hatte einen eigentümlichen Griff – es war, als hielte ich ein Lebewesen mit eigenem Willen in der Hand. Der Messinggriff war mit Holzintarsien geschmückt, und das Metall fühlte sich kühl an, obwohl das Messer die ganze Zeit in der Tasche des Mannes gewesen war.
»Machen Sie es doch mal auf und schauen Sie sich die Klinge an«, sagte er.
Ich drückte in die Einbuchtung am oberen Teil des Griffs, und die schwere Klinge sprang mit einem trockenen Schnappen auf. Sie war sieben bis acht Zentimeter lang. Mit geöffneter Klinge fühlte sich das Messer schwerer an; aber nicht nur das Gewicht fiel mir auf, sondern auch, wie perfekt es mir in der Hand lag. Ich schwang es auf und ab, von links nach rechts. Es schmiegte sich so gut in meine Hand, dass es mir, auch ohne dass ich es fester packte, nicht entgleiten konnte. Die stählerne Klinge mit der fein gravierten Blutrinne beschrieb einen glatten Bogen, als ich damit durch die Luft schnitt.
»Wie gesagt, ich verstehe nicht viel davon, aber das hier ist ein tolles Messer«, sagte ich. »Es liegt so gut in der Hand.«
»Aber ist es für ein Jagdmesser nicht ziemlich klein?«
»Das weiß ich nicht«, sagte ich. »Es kommt wahrscheinlich darauf an, wofür man es benutzt.«
»Allerdings, das stimmt.« Er nickte ein paar Mal, wie um sich selbst zu überzeugen.
Ich klappte das Messer wieder zu und gab es ihm zurück. Er öffnete noch einmal die Klinge und wirbelte es geschickt herum. Dann kniff er ein Auge zu, als würde er ein Gewehr anlegen, und zielte mit dem Messer direkt auf den Mond. Das Mondlicht spiegelte sich in der Klinge und blitzte kurz an der Schläfe des Mannes auf.
»Könnten Sie mir einen Gefallen tun und etwas damit schneiden?«, fragte er.
»Schneiden? Was denn?«
»Irgendwas, egal. Ich möchte nur mal sehen, wie es schneidet. Ich sitze ja hier fest, da habe ich nicht viel Gelegenheit dazu. Es wäre toll, wenn Sie etwas für mich zerschneiden könnten.«
Mir fiel kein Grund ein, ihm dies zu verweigern, also nahm ich das Messer, schnitt ein paar Mal in den Stamm einer Palme und schälte etwas von ihrer Rinde ab. Dann nahm ich eins von den Schwimmbrettern aus Styropor, die am Pool lagen und schnitt es der Länge nach entzwei. Das Messer war noch schärfer, als ich mir vorgestellt hatte.
»Ihr Messer ist phänomenal«, sagte ich.
»Es ist handgearbeitet«, sagte der junge Mann, »und es war auch ganz schön teuer.«
Ich zielte mit dem Messer auf den Mond, wie er es getan hatte, und starrte darauf. In seinem Schein wirkte das Messer wie der Stängel einer giftigen Pflanze, der gerade den Erdboden durchbricht. Wie etwas, das Nichts und Überfluss verband.
»Schneiden Sie weiter«, drängte er mich.
Ich zerschlitzte alles, was ich in die Finger bekam – Kokosnüsse, die am Boden lagen, die fleischigen Blätter einer tropischen Pflanze, die Speisekarte, die am Eingang der Bar hing. Ich hackte sogar auf ein paar Stücke Treibholz am Strand ein. Als ich nichts mehr fand, bewegte ich mich langsam und konzentriert wie beim Tai Chi und durchschnitt lautlos die Nachtluft. Nichts stand mir im Weg. Die Nacht war tief und die Zeit nachgiebig. Das Licht des vollen Mondes trug zu dieser Tiefe, dieser Nachgiebigkeit noch bei.
Während ich mit dem Messer in die Luft stieß, fiel mir plötzlich die fette Frau ein, die ehemalige Stewardess. Mir war, als umschwebte mich ihr weißes, aufgedunsenes Fleisch, formlos, wie Nebel. Alles wirbelte in diesem Nebel um mich herum – die Plattform, das Meer, der Himmel, die Hubschrauber, die Piloten. Ich versuchte sie zu zerschneiden, aber ich hatte das Gefühl für Distanzen verloren, und mein Messer erreichte sie nicht. War das alles eine Illusion? Oder war ich die Illusion? Vielleicht kam es darauf nicht an. Morgen würde ich nicht mehr hier sein.
»Manchmal habe ich
Weitere Kostenlose Bücher