Blinder Eifer
die drei toten Frauen nichts. Doch er mußte zugeben, wenn man an einem Faden zog, ribbelte man oft eine Menge auf.
Wieder schaute er zum Telefon. Wenn sie nicht anrief, mußte er womöglich nach Stratford-upon-Avon fahren. Keine unangenehme Aussicht. Er lächelte und erinnerte sich, wie er Jenny Kennington zum erstenmal gesehen hatte. Vor Angst war sie reizbar, störrisch, verschlossen, in gewisser Weise sogar unhöflich gewesen. Das war sie allerdings nie, wenn es um sie selbst, sondern nur, wenn es um andere ging, zum Beispiel um den wilden Kater Tom. Jenny schien so fest im Leben zu stehen, ganz dazusein. Ihm fiel ein, was Gertrude Stein einmal in der für sie so typischen Art über Los Angeles gesagt hatte: Da ist kein da da. Bei Jenny war es genau andersherum. Sie war da; sie war so überaus da. Aber wo zum Teufel steckte sie bloß?
In diese Tagträumereien hinein erklangen plötzlich völlig ungewohnte Klavierweisen, weniger »Musik« als vielmehr gebündelte Töne. Er hätte sie nicht als Klavierklänge erkannt, wenn er nicht gewußt hätte, daß in der leeren Wohnung oben ein alter Flügel stand. Jury richtete sich auf und starrte an die Decke. Den Flügel gab es schon so lange, wie sie - er, Mrs. Wassermann und Carole-anne - hier wohnten. Er war das einzige Möbelstück in der Wohnung, und niemand wußte, wo es herkam. Nicht einmal Mr. Moshegeiian, er entsann sich nicht, daß einer seiner Mieter einen besessen hatte. Jury mußte daran denken, wie sich sein kleines Spitzmaul von Mund la-chend öffnete und schloß und der Hoffnung Ausdruck verlieh, daß der Flügel ja vielleicht einen »Künstler« ins Haus locken würde.
Plink, wurden die Tasten am oberen Ende der Tonleiter angeschlagen. Plink. Ein wenig tiefer. Plonk, plonk. Stille. Hatte Mr. Moshegeiian nun jemand, der die Wohnung lüften und saubermachen sollte? Seit wann das? Jury kratzte sich am Kopf. Das war gar nicht Mr. Moshegeiians Art, er überließ es lieber Carole-anne. Aber Carole-anne erprobte ihre Virtuosität nur in den Gesprächen mit potentiellen Mietern (was ihnen auch nichts nützte). Knackende Rohre, tropfende Wasserhähne, knarzende Dielen, herabfallender Putz - dafür fühlte sich Madame nicht zuständig. Deren Schicksal wurde ja nicht von kollidierenden Sternen und Planeten bestimmt. Defekte Rohre und Wände waren Jurys Job.
Plink. Plonk, plonk, plink. Er starrte weiter nach oben. Es hörte sich an, als versuche ein Kind geduldig, sich selbst eine Melodie beizubringen. Jury verließ seine Wohnung und erklomm die Treppe zum ersten Stock. (Jede Wohnung erstreckte sich über ein gesamtes Stockwerk, geräumig wirkte das aber nur so lange, bis man merkte, wie schmal das Reihenhaus war.) Eine Weile lang blieb er vor der Wohnungstür stehen und lauschte. Er hörte nichts. Er klopfte leise. Keine Reaktion. Er klopfte noch einmal. Wieder keine Reaktion. Wie eine verwirrte Trickfilmfigur kratzte Jury sich am Kopf. Er drückte das Ohr an die Tür und lauschte.
»Klaviermusik?« Mrs. Wassermann schaute ihn neugierig an. Dann warf sie einen Blick auf seine Füße. »Sie haben vergessen, Ihre Schuhe anzuziehen, Mr. Jury.«
Als ob nur verrückte Leute ohne Schuhe Klaviermusik hörten. »Ich bin hinaufgegangen und habe geklopft. Aber niemand ist an die Tür gekommen, und die Musik hat aufgehört.«
Sie rang ihre plumpen Hände, faltete sie und dachte ernsthaft über dieses Problem nach. »Meinen Sie, es ist der Hund?«
Jury kniff die Augen zusammen. »Hm, nein. Das habe ich nicht gedacht. Denke ich auch jetzt noch nicht.« Der ironische Unterton entging Mrs. Wassermann. »Ich verstehe nicht, wovon Sie reden.«
»Na, von dem Hund in der Wohnung.« Als sei diese Erklärung ausreichend, begab sie sich wieder in ihre Küche. Jury folgte ihr auf dem Fuße. »Ich hole gerade die Nuß-Ingwer-Plätzchen aus dem Ofen, Mr. Jury. Die essen Sie doch immer so gern. Da können Sie gleich ein paar probieren.«
Mrs. Wassermann glaubte von so manchem, daß Jury es gern aß. »Wieso ist ein Hund in der Wohnung?« Warum der Klavier spielte, wollte er nicht fragen. Der Hund selbst war schon ein Hammer.
Sie blieb stehen und drehte sich um. »Hat Carole-anne Ihnen denn nicht Bescheid gesagt?«
»Worüber? Daß sie die Wohnung über mir an einen Hund vermietet hat?«
Mrs. Wassermann lachte, was sie sonst selten tat.
Dann bückte sie sich, um die Ofentür zu öffnen. »Er gehört doch dem neuen Mieter. Heute morgen, als Sie zur Arbeit waren, ist er
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