Blinder Einsatz
krampfhaft auf. Erst nach und nach stieg ihm ins Bewusstsein, was er in Bloemendaal getan hatte.
Lars war völlig unvorbereitet auf das, was geschehen war. Er war in eine Welt hineingestolpert, die er nur aus dem Fernsehen kannte. Plötzlich war sein Leben eine Notiz auf der Seite »Vermischtes« geworden. Auf dem Weg vom Amsterdamer Bahnhof zu seiner Wohnung hatte er das Gefühl, die Passanten würden ihn vorwurfsvoll anstarren. Er beschleunigte seine Schritte, als könne er sich damit selbst entfliehen. Vergebens, das Schicksal lachte ihn nur aus. Erst in seinen vier Wänden wurde er etwas ruhiger.
Amsterdam, 22.15 Uhr
Lars rief einen Freund an und redete über belanglose Dinge und über das Fußballspiel, das gerade lief. Wenigstens ein paar Minuten dem Schmerz, der Erinnerung, seinem Gewissen entkommen.
22.30 Uhr
Nach einer Weile wurde es ihm zu viel. Er beendete das Gespräch so ungezwungen wie möglich und ging wieder zum Fernseher: Das Fußballspiel war noch nicht zu Ende. Er ließ es im Hintergrund laufen, während er im Internet herauszufinden versuchte, ob der Mord an seinen Eltern bereits gemeldet wurde. Er war nervös und fühlte sich ziemlich aufgekratzt. Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er begann zu zittern. Er ging ins Bad, um sich zu betrachten. In dem bleichen Licht sah sein Gesicht noch fahler aus. Er erschrak vor sich selbst. Aus dem Spiegel sah ihn der Verbrecher an, zu dem er auf einmal geworden war. Das Medikament! Er brauchte es dringend, doch er hatte die letzte Gelkapsel bereits geschluckt. Er versuchte sich auf sein Alibi zu konzentrieren. Da kam ihm eine Idee. Ja, das konnte vielleicht funktionieren. Wenn alles glattging. Er rief bei seinen Eltern an und hinterließ ihnen eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, während im Hintergrund der Fernseher lief.
Den Rest der Nacht lag er wach, starrte auf den Wecker und zählte die Minuten, bis das Labor aufmachte.
Am nächsten Tag, 6.45 Uhr
Lars war todmüde und fror, doch das Adrenalin behielt die Oberhand. Er nahm nichts wahr vom Erwachen Amsterdams. Dieser Augenblick am Morgen, wo man sich nicht mit existenziellen Fragen quält und sich einfach nur vom Charme der Stadt verzaubern lässt, er hatte keine Bedeutung mehr für Lars. Nie mehr würde er diese Ruhe in sich finden. Seit dem Vorabend lebte er in einer anderen Welt.
Er trug immer noch dieselben Kleider. Schon seit zehn Minuten schritt er unruhig den Bürgersteig auf und ab. Endlich kam die Sekretärin und schloss auf.
»Guten Morgen. Haben Sie einen Termin?«
»Nein, aber ich muss unbedingt Doktor Neumann sprechen.«
»Er wird nicht vor 8.30 Uhr da sein.«
»So lange kann ich unmöglich warten.«
Lars hatte sich völlig auf 7.30 Uhr fixiert, nun gab es für ihn kein Halten mehr. 7.30 Uhr. Die ganze Nacht hatte er sich an diesen Gedanken geklammert. Noch länger zu warten, das überstieg seine Kräfte, war eine zu große Enttäuschung, so wie sie Kinder empfinden, deren Eltern ein Versprechen nicht eingehalten haben und die nun unaufhörlich »Aber du hast es mir doch versprochen!« plärren.
»Dann rufen Sie ihn eben an!«
»Nein, das geht nicht.«
»Hören Sie, sagen Sie ihm, dass ich am Medikamententest teilnehme und es mir nicht gut geht. Ich brauche das Medikament. Sofort!«
Lars wurde immer aufgeregter und hob die Stimme, ohne es zu merken. Der Sekretärin wurde unbehaglich zumute, sie bekam sogar ein wenig Angst. Nervös kramte sie in ihren Papieren. Dass es Lars nicht gut ging, war nicht zu übersehen. Vielleicht war es doch das Beste, Dr. Neumann anzurufen. Sie nahm den Hörer ab.
»Wie war noch mal Ihr Name?«
»Lars Loy.«
»Und Sie nehmen an welchem Test teil?«
»Aspectil, seit ungefähr einem Monat.«
Lars lief ungeduldig vor ihrem Schreibtisch auf und ab. Ohne das Medikament würde er nicht gehen.
»Doktor Neumann? Guten Morgen, hier ist Helen. Tut mir leid, dass ich Sie störe. Hören Sie, hier ist ein Herr Loy, er will unbedingt Aspectil haben, er nimmt an einem Test teil … Ja, ja, durchaus … Er hat Ringe unter den Augen, ist sehr bleich, schwitzt, zittert … Wo? Gut. Sie sind sicher, dass ich ihm das Präparat geben darf, auch wenn Sie nicht da sind? … Vielen Dank.«
Helen legte auf. Sie machte ein paar Notizen, ging kurz hinaus und kam mit einer Medikamentenschachtel zurück.
»Bitte schön. Doktor Neumann hat gestattet, dass ich Ihnen Aspectil aushändige. Ich soll Sie aber darauf hinweisen, dass Sie keinesfalls die Dosierung
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