Blinder Einsatz
kommt man auch auf den Geschmack am Risiko, der zum Wesen des Kapitalismus gehört. Bloß im Büro zu sitzen und Kundenportfolios zu betreuen ist nicht meine Sache …«
Paul gefiel meine Offenheit, mir wiederum sein unerschütterliches Vertrauen in sein Projekt. So dachte ich nicht lange nach und stieg bei ihm ein. Er hatte eine prima Idee, und ich meine Verbindungen aus Harvard, die sich gerade in der Anschubphase als sehr nützlich erwiesen. Mehr als fünf Jahre lang reisten wir kreuz und quer durch die USA, eröffneten Filialen in den größten Städten und versuchten auf unsere Weise, der Arbeit der Belegschaft in den Unternehmen eine neue Grundlage zu geben. Was uns am meisten reizte, war, dass wir an einer Nahtstelle von Wirtschaft und Politik ansetzten. Wir hatten das Gefühl, etwas bewegen zu können. Fünf Jahre lang steckten wir unsere gesamte Energie in dieses Ziel. Der Erfolg blieb nicht aus, die großen Konzerne begannen sich für uns zu interessieren. Anfang 1981 erhielt Paul die ersten Kaufangebote. Wir hatten lange darüber diskutiert. Ein Verkauf des Unternehmens würde uns eine Menge Geld einbringen, gleichzeitig aber auch das Ende unseres spannenden Abenteuers bedeuten. Nach einiger Überlegung nahm Paul ein Angebot an, und wir trennten uns bei einer letzten Tasse Kaffee in New York, nachdem wir die ganze Nacht den Verkauf unserer Firma gefeiert hatten. Wir hatten uns nahegestanden, waren aber nie wirklich Freunde geworden. Ich musste mir ein neues Leben suchen. Paul hatte schon neue Ideen, Geld zu machen, aber ich wollte was anderes.
II
Drei Monate vor der Entscheidung
28. Juni bis 9. Juli
1
Bei Poker kommt es nicht so sehr auf das Blatt an,
das man tatsächlich in der Hand hat,
sondern auf jenes, von dem dein Gegner glaubt,
dass du es in der Hand hast.
John Lukacs, Poker and the American Character (1963)
Paris, 5. Arrondissement, 28. Juni
»Hugh, kannst du nicht mal eine Sekunde das Pokern sein lassen, wenn ich mit dir rede?«
»Nein, kann ich nicht, gleich ist Finale, dem Gewinner winken 15 000 Dollar.«
»Ich bin vor zwei Stunden nach Hause gekommen und konnte noch kein Wort mit dir reden!«
»Aber ich höre doch zu.«
»Mach mal Pause. Ist dir das Pokerspiel etwa wichtiger als ich?«
»Herrje! Das kann doch nicht wahr sein. Was für ein Esel! Raist mit König Bube fünfundzwanzig Blinds.«
»Ich sehe schon, du unterhältst dich lieber mit deinem Bildschirm.«
»Ich kann jetzt nicht einfach aus dem Turnier aussteigen«, erwiderte Hugh und erhob sich brüsk von seinem Stuhl.
Hugh spielte nun schon seit einigen Monaten Internetpoker. Alles hatte ganz harmlos angefangen, nachdem er zufällig eine Sendung der World Poker Tour auf Canal+ gesehen hatte. Das Spiel hatte ihn mit seiner Dramatik bald gefesselt, und er hatte probeweise ein Konto auf einer Seite eröffnet, die Online-Poker anbot. Anfangs hatte er Partien gespielt, bei denen nicht mehr als 10 Cent gesetzt wurden. Schon bald hatte er beträchtliche Gewinne gemacht, doch dann machte ihm ein Tilt einen Strich durch die Rechnung. Er hatte mehrere Hände verloren, in denen er klar im Vorteil gewesen war, und dann sein ganzes Geld, fast 2000 Dollar, an einem einzigen Tisch gesetzt. Das passierte ihm mehrmals hintereinander, was ihn ziemlich wurmte. Er fragte sich, warum er bloß so viel Geld auf einmal gesetzt hatte. Langsam dämmerte ihm, dass er mit mehr Überlegung spielen musste, wenn er wirklich auf der Gewinnerstraße bleiben wollte. Er musste sich besser beherrschen, den Faktor Glück akzeptieren, durfte nicht vergessen, dass es darauf ankam, nur zu setzen, wenn man gute Karten hatte. Am Ende entschieden eben immer die Karten, und auf lange Sicht war alles eine Frage der Statistik. Ja, er musste lernen, sich zu beherrschen. Nur ungern dachte er an jenen Abend, als er vor lauter Wut über das ausbleibende Glück laut brüllend seine Maus gegen die Wand geworfen hatte. Was seine Nachbarn wohl über ihn gedacht hatten?
Er hatte also sein Konto wieder aufgestockt und geduldig seine Einsätze nach und nach erhöht. Mittlerweile spielte er auf der Website www.raisypoker.com Partien, bei denen es um 1000 Dollar ging. Gekonnt nutzte er die Möglichkeiten des Internetpokers: Häufig hatte er sechs oder acht Tische gleichzeitig auf seinem Bildschirm geöffnet, was ihm ermöglichte, seinen Gewinn pro Spielstunde zu steigern. Er lebte nun nach einer völlig anderen Zeitrechnung, denn selbst das kürzeste Turnier im Internet
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