Blinder Einsatz
Zehn Minuten nach dem letzten Spiel saß Lars immer noch wie versteinert am Tisch. Der Dealer wies ihn freundlich, aber bestimmt darauf hin, dass er seinen Platz räumen müsse, wenn er sich keine neuen Chips besorge. Lars, dem der kalte Schweiß auf der Stirn stand, fügte sich. Als er aus dem Saal schlich, kramte er nach seinem Aspectil, doch die Schachtel war natürlich immer noch leer. Wutschnaubend pfefferte er sie in den nächsten Mülleimer. Er wollte es einfach nicht glauben. Doch wenn er kein Glück beim Poker hatte, dann vielleicht beim Roulette? Er, der noch vor wenigen Stunden über dieses Glücksspiel die Nase gerümpft hatte, ging nun zielstrebig auf die Roulettetische zu. Zuvor aber tauschte er noch fast 40 000 Dollar gegen Chips ein. Er hatte jeden Begriff von Geld verloren. Eigentlich hatte er ja nicht mehr als 10 000 Dollar verspielt, seinen ursprünglichen Einsatz. Das war zwar auch eine Stange Geld, aber letztlich nur ein Zehntel dessen, was ihm die Versicherung ausgezahlt hatte. Er war noch lange nicht pleite. Trotzdem wurmte ihn der Absturz, sosehr er sich auch dagegen sträubte. Niemand würde ihm Vorwürfe machen. Und auf einmal spürte er, wie allein er war. Schon kam es ihm vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dass er der Mittelpunkt gewesen war, sich alle um ihn geschart hatten. Als er gerade an die Roulettetische treten wollte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Es war der Niederländer, der sich einige Stunden zuvor neben ihm am Pokertisch niedergelassen hatte. Er erkundigte sich, wie es um ihn stand und ob es ihm gelungen sei, die Profis zu schlagen. Lars grummelte bloß etwas vor sich hin, um ihn abzuwimmeln. Der Niederländer hängte sich trotzdem an ihn und redete auf ihn ein, er erlaubte es sich sogar, Lars vor dem Roulettespiel zu warnen. Ein Seitenblick von Lars vertrieb ihn schließlich. Dreißig Minuten später hatte Lars endgültig alles verloren. Er wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand, er hatte Bauchschmerzen und das dringende Bedürfnis, an die frische Luft zu kommen. Er rannte regelrecht aus dem Casino und rempelte dabei rücksichtslos die Leute an.
Alles schwirrte ihm im Kopf herum: die Gewinne, die Verluste, die Morde. Wieder stiegen Bilder vor seinem inneren Auge auf: seine Mutter, tot zu Boden gesunken, das zerschmetterte Gesicht seines Vaters. Er versuchte diese Gedanken beiseitezuschieben, aber es wollte ihm nicht gelingen. Es war kurz vor Mitternacht, als er ganz allein vor dem Eingang des Bellagio stand. Was nun? Er hatte keinen Plan. Mechanisch und ohne Ziel setzte er sich in Bewegung. Er hielt Ausschau nach einer Bar, irgendeinem Ort, wo er einen klaren Gedanken fassen konnte. Aber als er eine ansteuerte und die Türsteher seinen Ausweis sehen wollten, wurde er sauer, behandelte sie arrogant, provozierte und beschimpfte sie. Dabei hätte er auf den ersten Blick sehen müssen, dass er es mit den beiden nicht aufnehmen konnte. Die Türsteher zahlten ihm mit gleicher Münze heim, worauf Lars völlig ausrastete und einem von ihnen einen Kopfstoß versetzte. Der machte kurzen Prozess, packte Lars am Kragen, schleifte ihn in eine dunkle Seitengasse und schlug ihn zusammen. Lars ging stöhnend zu Boden. Doch der Typ hatte noch nicht genug. Vergeblich versuchte Lars, mit den Händen seinen Kopf vor den Tritten zu schützen, er schrie laut um Hilfe, schließlich wurde ihm schwarz vor den Augen. Als er noch einmal kurz den Kopf hob, sah er an der Ecke ein Gesicht. Kam ihm da jemand zu Hilfe? Der Niederländer! Lars rief nach ihm, doch die Gestalt verschwand. Erst in diesem Augenblick dämmerte es Lars, warum er sich so unwohl gefühlt hatte, als der Niederländer sich neben ihn gesetzt hatte. Der Mann aus Amsterdam hatte Erinnerungen in ihm wachgerufen, die er nur zu gerne loswerden wollte. Jetzt erst erkannte er ihn! Dieser Mann, der eben nicht auf seinen Hilferuf reagieren wollte, war an dem Abend, an dem er seine Eltern erschlagen hatte, auf der Rückfahrt mit ihm zusammen in den Zug nach Amsterdam gestiegen. Noch einmal tauchten die Gesichtszüge schemenhaft vor Lars’ schwindendem Blick auf. Dann verlor er endgültig das Bewusstsein. Seine Hände gaben seinen Kopf frei, und der letzte Tritt traf seinen ungeschützten Schädel mit voller Wucht.
THE FLOP
Der 25. August 1969 brachte viele Veränderungen für mein Leben. Doch manches blieb sich auch gleich, das sah ich sofort, als ich an diesem Morgen aus dem Auto meines Vaters stieg: die Studentenunterkünfte,
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