Blinder Instinkt - Psychothriller
war er völlig erschöpft zu seiner Wohnung gefahren, hatte geduscht, gegessen und dann Kolle angerufen. Sie hatten sich für zwanzig Uhr bei ihm verabredet.
In all den Jahren war Max nur ein einziges Mal im Haus seines Trainers gewesen. Damals, vor vier Jahren, nachdem Kolle einen Herzinfarkt erlitten hatte, aus dem Krankenhaus entlassen worden war und sich zuhause erholt hatte. Bis zu dem Tag hatte Max nie darüber nachgedacht, wie Konrad Leder wohnte, war unbewusst vielleicht sogar davon ausgegangen, das Gym sei sein Zuhause.
Aber dem war natürlich nicht so, und jetzt ging Max mit den Händen in den Taschen auf das gepflegte Einfamilienhaus zu. Es war ein Backsteinbau im Bungalowstil der siebziger Jahre, schnörkellos, langweilig, bieder. Passend zu all den anderen Häusern in der ruhigen Wohnstraße. Nichts Besonderes, aber in dieser Gegend auch nicht gerade billig.
Ein warmer Glockenton scholl durch das Haus, nachdem Max auf den Knopf gedrückt hatte. Auf dem Bronzeschild
daneben stand etwas lieblos der Name Leder . Kein Vorname. Max wusste, dass Kolle hier allein lebte, nachdem seine Tochter vor einer Ewigkeit ausgezogen war und seine Frau sich vor einer etwas kleineren Ewigkeit von ihm getrennt hatte. Man munkelte, sie wäre mit einem Tütensuppenfabrikanten nach Kanada gegangen. Selbstverständlich trug Kolle seinen alten Bundeswehrtrainingsanzug, als er die Tür öffnete. Er wirkte irgendwie … klein. Nicht so übermächtig wie im Gym.
»N’Abend, Kolle«, sagte Max.
»Komm rein, mein Junge.«
Kolle legte ihm eine Hand auf die Schulter - genau dorthin, wo bereits Sinas Hand lag, aber das konnte er ja nicht wissen - und führte ihn über einen gefliesten Flur in die kleine Küche.
»Setz dich, mein Junge, ich hab Kaffee gekocht. Du trinkst doch eine Tasse mit mir, oder?«
»Eine Tasse kann ja nicht schaden.«
»Sicher nicht.«
Max setzte sich in denselben Stuhl, in dem er vor vier Jahren auch schon gesessen hatte. Das hatte etwas tröstlich Vertrautes. Damals war er gekommen, weil er sich um seinen Trainer gesorgt und befürchtet hatte, seine weitere Karriere ohne Kolle angehen zu müssen. Wahrscheinlich wäre es dann keine Karriere mehr gewesen. An jenem Tag war er genauso aufgeregt gewesen wie heute. Aber heute würden sie sich nicht übers Boxen unterhalten, sondern übers Leben.
Übers Leben und über den Tod.
Kolle stellte zwei große Keramikbecher auf den Tisch und goss sie randvoll mit dampfend heißem Kaffee. Dann ließ er sich Max gegenüber in einen Korbstuhl fallen.
»Ich habe mich wirklich gefreut, dass du angerufen hast«, sagte er. »Dir liegt etwas auf dem Herzen, nicht wahr? Und es hat mit dem Anruf dieser Polizistin zu tun. Seit dem Anruf bist du wie ausgewechselt.«
Max nickte. Obwohl Kolle ihm den Einstieg leicht machte, musste er trotzdem nach den richtigen Worten suchen. Mit der Tür ins Haus fallen konnte er nicht, das konnte man mit einer solchen Wahrheit wohl nur selten.
»Ja, es hat mit diesem Anruf zu tun, aber eigentlich … Eigentlich hat es schon vor zehn Jahren begonnen …«
Und dann begann er zu erzählen.
20
»Hatte ich dir nicht ausdrücklich verboten, Fußball spielen zu gehen!«, schrie sein Vater ihm aus kurzer Distanz ins Gesicht. Speicheltropfen landeten auf Wangen und Stirn, alkoholgeschwängerter Atem ließ ihn den seinen anhalten.
Dann klatschte ihm die flache Hand auch schon rechts ins Gesicht. Der Schmerz war heftig, sein Kopf wurde auf die Seite geschleudert, er selbst taumelte zwei Schritte zurück. Sofort schossen ihm Tränen in die Augen.
»Du brauchst hier nicht rumheulen, das bringt dir gar nichts! Ich hatte es dir ganz klar verboten! Du warst für deine Schwester verantwortlich. Du! Und jetzt sieh dir an, was passiert ist, als du für sie verantwortlich warst. Du Versager!«
Die Hand klatschte ihm links ins Gesicht. Mit derselben Wucht, aber der Schmerz war nicht mehr so heftig. Allerdings spürte Max plötzlich einen warmen Kupfergeschmack
im Mund, der seinen Rachen hinunterrann. Im selben Moment tropfte auch schon Blut aus seiner Nase auf den Teppich in seinem Kinderzimmer.
»Verdammte Scheiße! Mach das weg hier!«
Blut mochte sein Vater nicht sehen. Er kehrte ihm den Rücken zu, verließ das Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und polterte die Treppe hinunter. Unten schrie er seine Frau an, die seit zwei Tagen, seitdem Sina verschwunden war, nur noch am Küchentisch saß und heulte. Und trank.
Max schnappte sich ein weißes
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