Blinder Instinkt - Psychothriller
Handtuch, das vom Duschen noch auf seinem Bett lag, und drückte es sich unter die Nase. Dann nahm er es wieder weg und betrachtete die hellroten Flecken auf dem weißen Stoff. Der Kontrast war sehr stark, und irgendetwas löste er in Max aus. Seine Beine begannen zu zittern. Er ließ sich mit dem Rücken an der Wand hinabsinken. Auf dem Hosenboden sitzend, die Knie eng an den Körper gezogen, tropfte das Blut aus seiner Nase auf seine nackte Brust und lief zum Bauchnabel hinunter. Erneut presste er das Handtuch auf seine Nase und legte den Kopf in den Nacken.
Durch das geöffnete Fenster neben ihm drang schwülwarme Luft ins Zimmer. Ein paar Krähen kreischten in den Kirschbäumen. Unten polterte weiterhin sein Vater und heulte seine Mutter.
Max nahm das alles wie durch einen Filter wahr - einen Filter aus Schmerz, Wut und Verzweiflung. Noch an dem Tag, an dem Sina verschwunden war, hatte sein Vater ihn mit einer Weidenrute geschlagen. Max spürte immer noch die roten Striemen an Rücken und Hintern. Was ihn aber bei all der Brutalität am meisten mitnahm, war, dass sein Vater während der Suche nach Sina, also während er in
Gedanken nur bei seiner einzigen Tochter hätte sein sollen, schon daran gedacht hatte, einen Weidenstock zu brechen, um seinen Sohn damit zu schlagen.
Das war einfach nur … pervers.
Die Krähen krächzten laut ihre Zustimmung.
Max vermisste Sina.
Sie war noch hier im Haus, war in ihrem Zimmer, in dem Kissen, in ihrem Lieblingsstoffhasen mit den langen Plüschohren, in der großen Bürste, mit der sie ihr Haar jeden Tag bürstete und in der Hunderte Haare verzwirbelt waren. Er spürte ihre Hand auf seiner Schulter. Ihre Finger krallten sich in seinem Muskel fest, wie sie es nie zuvor getan hatten, so als wollten sie verhindern, was nicht mehr zu verhindern war. Die Schläge seines Vaters taten weh, aber sie waren nichts gegen diesen Schmerz.
Nichts.
Max spürte, dass das Blut in seiner Nase bereits zu trocknen begann. Er nahm das Handtuch herunter, wartete einen Moment ab und warf es in die Ecke. Dann stand er auf, lehnte sich auf das Fensterbrett und sah hinaus. Sein Zimmerfenster ging auf den großen Garten und die angrenzenden Felder hinaus.
Wenn Sina nicht wieder auftauchte - und daran mochte Max nicht denken -, dann würde seine Welt nie wieder sein wie vorher. Dann müsste er genau das tun, worüber Sina bereits nachgedacht hatte: Fortlaufen! Bliebe er hier, würde es zu einer Katastrophe zwischen ihm und seinem Vater kommen. Denn lange würde Max sich die Schläge nicht mehr gefallen lassen. Seine Grenze war bald erreicht.
»Und was ist dann passiert?«
Kolle war in seinem Stuhl ganz nach vorn gerückt, während Max erzählt hatte. Er saß in angespannter Haltung auf der vordersten Kante, die Finger ineinander verschränkt. Längst war ihr Kaffee ausgetrunken, der Rest in der Kanne erkaltet, denn als Max erst einmal begonnen hatte, hatte er nicht mehr aufhören können.
Genau wie bei der Polizistin hatte Max am Flussstrand begonnen, an jenem letzten wunderbaren Tag mit Sina. Binnen weniger Tage hatte er die Geschichte, die er zuvor zehn Jahre lang wie ein Krebsgeschwür mit sich herumgetragen hatte, zum zweiten Mal erzählt.
Jetzt zuckte Max mit den Schultern, so als wäre es damals nicht die schwerste Entscheidung gewesen, die ein Fünfzehnjähriger treffen konnte.
»Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. An dem Tag, als mein Vater mir die Nase blutig schlug, wartete ich noch, bis es dunkel wurde, dann bin ich getürmt … Das war übrigens mein sechzehnter Geburtstag. Ich konnte nicht länger untätig herumsitzen, wollte nach meiner Schwester suchen. Damals dachte ich wirklich, ich würde sie irgendwann schon finden, weil wir ja so eine besondere Beziehung hatten. Ich würde sie spüren, dachte ich. Kindisch, ich weiß. Wenn es so wäre, hätte ich sie ja schon vorher finden müssen.«
»Ich finde das ganz und gar nicht kindisch«, sagte Kolle. »Ich hätte sicher genauso gehandelt … Nachdem ich mit meinem Vater abgerechnet hätte.«
Max sah zu Kolle auf. »Tja, die Chance dazu sollte ich bald bekommen. Ich bin nämlich nicht weit gekommen. Genau eine Nacht und einen Tag habe ich draußen verbracht, habe überall nach Sina gesucht, dann griff mich eine Streife
auf. Die haben mich wieder nach Haus gebracht. Wo mein Vater bereits wutentbrannt und völlig betrunken auf mich wartete.«
»Er ist auf dich losgegangen, oder?«
Max nickte und schluckte einen Kloß in
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