Blinder Instinkt - Psychothriller
nicht. Er hielt sie auf der Tischplatte fest, den Bauch nach oben, nahm den kleinen Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger und fixierte ihn. Dann führte er die Spitze des Skalpells neben das rechte Auge. Wollte es dort aufsetzen, doch das Zittern in seiner Hand verhinderte es. Die feine metallene Spitze tänzelte um das winzige Auge, und so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, sie stillzuhalten.
Schließlich stach er einfach zu. Zu fest, zu tief. Die Maus starb binnen Sekunden.
Einen Moment hielt er sie noch fest, presste seine Finger immer fester um den Körper, so dass er sich verformte und Blut aus dem Mund und den Augenhöhlen drang. Dabei zitterte seine Hand immer stärker.
»Verflucht!«, zischte er, warf die tote Maus beiseite und griff abermals in den Glasbehälter. Auf dem Boden des tiefen Gefäßes, aus dem ein Entkommen unmöglich war, tummelten sich an die fünfzig Wüstenrennmäuse, und alle flohen vor der gewaltigen Hand, die nach ihnen griff. Es war ein hektisches Gerenne, Körper purzelten übereinander, trotzdem bekam er eine zu fassen und riss sie aus dem Wust.
Er begann mit der gleichen Prozedur, und wieder zitterte seine Hand, während er das Skalpell ans Auge der Maus heranführte. Als er spürte, dass er es nicht schaffen würde, übermannte ihn plötzlich heiße Wut. Er ließ die Maus los, die jedoch nicht schnell genug reagierte, und stach das Skalpell mitten durch den kleinen Körper. Mit so viel Kraft, dass die Spitze in die Tischplatte fuhr und dort stecken blieb. Die Beinchen griffen wild in die Luft, zuckten und zappelten und standen schließlich still.
Seine Wut aber war noch nicht gestillt. Sie wuchs immer weiter, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. So große Wut hatte er schon lange nicht mehr verspürt. Mit einer wuchtigen Bewegung sprang er auf, der Stuhl kippte scheppernd nach hinten um. Er stand da, öffnete und schloss die Hände, sah sich in dem schummrigen Raum um, der nur von dem grünen Licht des Terrariums beleuchtet wurde. Alles war wie immer; das Licht, die Hintergrundgeräusche, die Anordnung der Möbel, alles so, wie er es haben wollte. Gleichzeitig war
aber auch alles anders. Es lief aus dem Ruder, und er wusste nicht, wieso. Er fühlte sich hilflos, meinte zu spüren, wie ihm all das entglitt, was er über Jahre hinweg so mühsam und mit so viel Leidenschaft aufgebaut hatte.
Nein, nein, nein!
Das durfte einfach nicht geschehen! Niemand durfte einfach so daherkommen und sein Leben zerstören! Niemand hatte das Recht dazu!
Er wirbelte herum, stieg auf den kleinen Tritt und öffnete die Schiebetür des Terrariums. Dann ging er zum Tisch zurück, schnappte sich den Glasbehälter mit den Mäusen, stieg damit wieder auf den Tritt, hielt ihn vor die Öffnung und kippte ihn einfach. Ihre Beinchen kratzten über das Glas, während sie versuchten, daran hochzulaufen. Er hielt das Gefäß noch schräger, und die ersten Mäuse plumpsten durch das dichte Dach des Regenwaldes hindurch zu Boden. Er schüttelte das Gefäß so lange, bis keine Mäuse mehr darin waren.
Zwei fielen allerdings daneben und landeten auf dem Zimmerboden. Hastig stieg er von dem Tritt, stellte das Glas ab und suchte nach den Viechern. Er hasste es, wenn sie frei herumwuselten, konnte es nicht leiden, diese kleinen Schatten über den Boden huschen zu sehen. Das machte ihn nervös!
Da! Eine versuchte in Richtung des Sessels zu entkommen. Er sprang auf sie zu, schnitt ihr den Weg ab, die Maus machte kehrt, entkam aber dennoch nicht seinen Schuhen. Dann trampelte er so lange auf dem Tier herum, bis nur noch Brei übrig war. Während er mit dem Hacken darauf herumtrat, schrie er sich seine Wut aus dem Leib.
»Lasst mich in Ruhe! Lasst mich doch endlich alle in Ruhe. Ihr sollt mich nicht ansehen! Niemand darf mich einfach so ansehen. Niemand! Lasst mich bloß alle in Ruhe!«
Die andere!
Wo war die andere Maus?
Hektisch sah er sich in dem schummrigen Raum um. Viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, hatte die Maus hier nicht. Und er spürte sie bereits, wie sie zitternd in einer Ecke hockte und ihn aus der Dunkelheit heraus anstarrte. Selbst diese winzigen Augen spürte er deutlich überall auf der Haut; es kribbelte und brannte, machte ihn verrückt.
Er musste sie finden!
Er schob den schweren Sessel beiseite, doch da war sie nicht.
Er schob den Tisch beiseite, doch auch dort war sie nicht.
Wo, wo, wo?
Ein kleiner dunkler Schatten huschte nahe der Tür dicht an der Wand entlang.
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