Blinder Rausch - Thriller
also unbezahlbar. Über Denises Schulter hing ebenso selbstverständlich der breite Lederriemen der Harry-Higgs-Tasche, 300 Euro, mit der sie schon gestern, am ersten Schultag nach den Sommerferien, gepunktet hatte. »Und wo willst du ihn sonst noch gesehen haben?«, fragte Denise mit einem Unterton, den Leonie von manchen Lehrern kannte, die schon in die Art, wie sie fragten, alle Zweifel packten, dass der Schüler die Frage je beantworten könnte. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte Leonie sich unsicher und klein, doch dann schäumte die gute alte Wut in ihr auf. Wut auf Denise, die schon seit der Kindergartenzeit in Leonie eingepflanzt war und tägliche Gelegenheiten bekam, neu aufzukeimen. Leonie war inzwischen davon überzeugt, dass man nicht nur v.b.fs, (very best friends), sondern auch very best enemies im Leben hatte.
»Nicht auf dem Konzert! Heute Morgen!«, triumphierte Leonie. »Ich konnte mich sogar kurz mit ihm unterhalten.«
Leonie kostete die völlige Verblüffung auf den Gesichtern ihrer Klassenkameraden aus. Selbst der blasse Benjamin, der inzwischen mit den Trümmern seines Handys in der Hand eingetroffen war, staunte mit offenem Mund.
Die Schüler wichen ein wenig zur Seite und bildeten eine Gasse für Frau Landmann, die sich mit dem rasselnden Schlüsselbund in der einen Hand und ihrer Tasche in der anderen der Tür näherte. Leonie atmete zufrieden aus. Die Landmann rettete sie davor, weitere Erklärungen abgeben zu müssen. Sollten die anderen doch erst einmal an dieser Sensationsnachricht knabbern. Während sie ihre Sachen auspackten, redete Leonie leise auf Hanna, ihre Tischnachbarin, ein.
»Schade, dass deine Eltern dich am Samstag nicht auf das Konzert gelassen haben. Es war traumhaft. Tausendmal besser als die Videoclips. Live! Die gleiche Luft wie er zu atmen. Wahnsinn!«
Hanna zuckte mit den Schultern. Das alles hatte Leonie ihr bereits gestern in unzähligen Varianten erzählt. Hannas Mathebuch und die Hefte lagen inzwischen sorgfältig gestapelt auf dem Tisch.
Leonie wühlte noch in ihrem Beutel. »Scheiße, ich hab Englisch statt Mathe eingesteckt. Das muss mein Unterbewusstsein gewesen sein. Alles in mir wehrt sich gegen Mathe!«, seufzte Leonie und legte Deutschhefte und das Englischbuch auf den Tisch, damit es dort nicht so leer aussah und die Landmann mit ihrem Adlerblick nicht gleich auf Leonies Nachlässigkeit aufmerksam werden konnte.
»Wo willst du ihn gesehen haben?«, flüsterte Hanna, denn inzwischen begann rundherum Ruhe einzukehren. Auch die Landmann hatte ihre Tasche ausgepackt und stand nun vorne und wartete. »Heute Morgen im Bus!«, raunte Leonie. Hanna verzog das Gesicht. »Im Bus? Harry Higgs fährt doch nicht Bus!« Hannas Worte hallten in der Stille des Klassenraums. Einige Schüler lachten los. Die Landmann ermahnte Hanna, die sofort knallrot anlief und sich entschuldigte.
Es gäbe zu Beginn des Schuljahres noch einige Klassendinge zu klären, meinte die Landmann. »Zum Beispiel wer Klassensprecher wird«, platzte Oli herein. »Oder wer Ordnungsdienst macht«, ergänzte Andy. »Ich schlage Denise als Klassensprecherin vor«, rief Merve.
Leonie verzog das Gesicht. Merve, die kleine unscheinbare, zarte Merve, die Denise zutiefst bewunderte, ihr nur nach dem Mund redete, nichts auf sie kommen ließ und glücklich war, wenn Denise sie in ihrer Nähe duldete. »Armseliges Opfer«, murmel-te Leonie leise, sodass höchstens Hanna es hören konnte.
»Ich schlage Leonie vor!«, rief Hanna. »Das war jetzt aber nicht nötig«, raunte Leonie ihrer Freundin zu. »Ich hätte mich schon selbst vorgeschlagen, wenn ich so ein langweiliges Amt machen will.« »Willst du nicht?«, fragte Hanna. »Eigentlich nicht«, wisperte Leonie, »aber wenn es um eine Wahl gegen Denise geht, schon.«
Nach einiger Zeit standen etliche Wahlvorschläge an der Tafel. Außer Denise, Leonie, Oli und Andy war auch noch Benjamin vorgeschlagen worden. »Ich will das aber nicht machen!«, hatte Benjamin geantwortet. »Oooooooch, das ist aber schade!«, hatten einige im Chor getönt. Die Landmann griff ein. Benjamin kam mit Merve in den Wahlausschuss. »Wer die meisten Stimmen bekommt, wird Klassensprecher«, erklärte die Landmann. »Mir ist es lieber, wenn wir auf jeden Fall zwei Leute haben, die das machen und die sich gegenseitig vertreten können. Deshalb schlage ich vor, dass die Person mit den zweitmeisten Stimmen dann Klassensprechervertreter sein soll. Und bitte alles in einem
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