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Blinder Rausch - Thriller

Blinder Rausch - Thriller

Titel: Blinder Rausch - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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in ihrer schmutzigen Hand.
    Sie hebt den Kopf. Die Oberfläche des Sees glüht plötzlich auf, wie eine polierte Kupferplatte. Die Enten ziehen ihre Bahnen darauf wie kleine schwarze Spielfiguren. Hinter das Scherenschnittmuster der Bäume und Gräser des gegenüberliegenden Ufers schiebt sich das glutrote Halbrund der Sonnenscheibe. Ihre Strahlen entzünden die aufgeplusterten Ränder der Wolken, die schwer und dunkel über dem See hängen. Von Ferne her hört man dumpfes Donnergrollen. So ähnlich hat sich Leonie den ersten Tag der Welt vorgestellt, wenn Oma ihre Geschichten erzählte. Geil, flüstert sie und ärgert sich, dass sie das grandiose Schauspiel vor ihren Augen nun nicht mit dem Handy fotografieren kann. Ein Glitzern im Augenwinkel holt sie aus ihren Gedanken. Es kommt von dem T-Shirt, das sie trägt. Es ist verziert mit einer Stickerei aus Strasssteinchen und Pailletten.
    Mein T-Shirt? Sie fasst den Stoff mit beiden Händen an der Brustseite und hebt ihn an, sodass sie ihn mit angezogenem Kinn von oben betrachten kann. Die linke Brustpartie des ehemals weißen T-Shirts ist intensiv in die Farbe dunkler Auberginen getaucht. Die Stickerei aus rosa Pailletten und silbrigem Strass hat die Form eines handtellergroßen Schmetterlings. Er hat einen braun überkrusteten, matten Flügel. Etwas in ihr begehrt auf. Ein weißes T-Shirt mit Glitzerschmetterling? Nie im Leben hätte ich mir so was Albernes gekauft. Hätte ich? Ich? Alles ist plötzlich wieder so unwirklich. Dazu tragen das seltsame Himmelslicht bei und die immer noch nicht beantwortete Frage, wie sie überhaupt hierher gekommen ist. Sie kann sich nicht erinnern, schon einmal ein solches T-Shirt besessen zu haben und doch kommt es ihr bekannt vor. Es gehört jemand anderem, aber wem? Hanna? Nein, die darf nur die Ökoklamotten tragen, die ihre Eltern bei diesem Bioversand bestellen. Da gibt es keine Glitzerschmetterlinge und auch keine weiße Baumwolle. Von Mama? Die zieht so was auch nicht an. Aber eigentlich ist das auch erst einmal nicht wichtig. Was ist wichtig? Wie ich von hier wegkomme, ohne dass mich jemand sieht in diesen versauten Klamotten. Und wie ich hierher gekommen bin, muss ich klären, damit ich mir für Zuhause eine halbwegs plausible Story überlegen kann. Ärgerminimierung nennt man das. In dieser Sportart ist Nik mindestens Europameister. Sie hätte ihn jetzt anrufen können. »Hey, Nik, hier ist die Antwort. Ich bin noch wach und brauch eine gute Story …« Ihm würden vermutlich mindestens drei Varianten einfallen, wie sie diese Klamotten loswerden und mit einer guten Erklärung zu Hause landen könnte.
    Leonie schreckt aus ihren Gedanken auf. Motorenlärm und das Geräusch zischenden Wassers und rotierender Besen nähern sich von der anderen Parkseite her. Bald kann sie erkennen, dass sich auf dem Kiesweg ein Reinigungstrupp mit einem Kehrfahrzeug und ein Wagen mit Wassertank nähern. Die Kleidung der Arbeiter leuchtet wie die Fahrzeuge in einem knalligen Orange. Die Drahtkörbe werden ausgeleert, der Müll zusammengekehrt und hartnäckiger Schmutz mit einem zischenden Wasserstrahl weggespritzt.
    Gut, dass ich noch rechtzeitig wach geworden bin, denkt Leonie, sonst wären meine Sachen hops gegangen. Sie erhebt sich vorsichtig. Sofort ist das Stechen im Kopf wieder da. Einen Augenblick muss sie sich an der Lehne der Bank festhalten. Dann hängt sie ihre Tasche um, legt die Jacke so über den Arm, dass man die Flecken nicht sieht, nimmt die Schuhe in die Hand und wankt langsam barfuß davon. Die kleinen Steinchen des Kieswegs stören nicht, im Gegenteil, sie bohren sich in die Fußsohlen und lenken ab von den anderen Schmerzen und den unguten Gedanken, die in ihr nagen. Der Himmel hat sich verfinstert. Das Donnergrollen ist näher gekommen und ein leichter Wind treibt Papier auf dem Weg vor ihr her. Bald wird sich hier ein heftiges Sommergewitter entladen. Leonie bietet alle Kraft auf, um ihren Schritt zu beschleunigen. Wieder befallen sie düstere Gedanken. Wenn das auf der Kleidung und an mir doch keine Ketchupflecken sind? Doch Blut? So viel Blut? Aber woher? Blödsinn! Woher denn? Ich bin nicht verletzt. Mach dich jetzt bloß nicht verrückt mit Einbildungen! Du hast jetzt wirklich andere Sorgen!
    Rundherum ist die Großstadt bereits erwacht. Man hört tosenden Verkehrslärm. Schlagende Autotüren. Der Wind ist inzwischen zu einem kleinen Sturm geworden und biegt die Bäume im Park. Blätter wehen, trockene Zweige stürzen

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