Blindes Grauen
trocknete ihn an ihrem Hemd ab. Sie schob den zackigen Flaschenhals in ihre Hosentasche.
Sie lächelte. Gut. Das wäre erledigt. Ich bin bewaffnet. Jetzt musste sie nur noch einen Weg nach draußen finden. Oder sonst etwas, womit sie Kontakt zur Außenwelt aufnehmen konnte.
Wie könnte sie kommunizieren? Vielleicht konnte sie SOS auf einer Rohrleitung klopfen? Oder Rauchsignale geben? Sie spürte eine Welle der Frustration. Sie hatte wenig Zweifel daran, ganz egal, wo sie war, dass sie weit entfernt von anderen Leuten war. Auf Rohren herumzuklopfen würde also wahrscheinlich nichts bringen.
Denk nach! Denk nach!
Im anderen Zimmer begann ein Telefon zu klingeln.
Andererseits, dachte MeChelle, gibt es auch naheliegende Möglichkeiten. Finde das verdammte Telefon!
Plötzlich raste ihr Herz. Sie tastete sich durch die Küche, so schnell es ihr möglich war. Ein klingelndes Telefon! Wenn sie es bloß erreichte, bevor der Anrufer auflegte. Sie könnte mit jemand reden, sie könnte um Hilfe bitten!
Das Telefon klingelte noch einmal. Dann ein drittes Mal.
Wie konnte die Stimme so blöd gewesen sein, ein Telefon im Zimmer zu lassen? Na, egal.
Durch die Tür. In den anderen Raum.
Das Telefon klingelte zum vierten Mal.
Es schien immer noch entsetzlich weit weg zu sein. Sie ging so schnell sie sich traute durch das Zimmer, sie schlurfte mit den nackten Füßen, um nicht gegen irgendetwas zu stoßen.
Was nicht funktionierte.
Sie stolperte gegen etwas Hartes, verlor ihr Gleichgewicht, stürzte zu Boden, schlug sich den Kopf an der Wand. Sie fluchte, rappelte sich auf, watschelte jetzt ungelenk vorwärts.
Das Telefon klingelte noch einmal.
Wo zum Teufel war das Ding?
Sie schlurfte wieder vorwärts, vorsichtiger diesmal, sie wedelte mit den Händen vor sich in der Luft. Verdammt!
Und da war es. Da war es endlich. Ein glattes Plastikding in ihren Händen. Es fiel zu Boden. Sie beugte sich herunter und nahm es hoch.
»Hallo«, sagte sie.
Es folgte eine lange Pause, dann ein merkwürdig hohles Geräusch, als stünde jemand am anderen Ende eines langen Tunnels.
»Hallo?«, fragte sie.
Keine Antwort.
»Hören Sie. Bitte, ich bin in Not. Ich brauche Hilfe. Ich weiß nicht, wo ich bin, aber ich kann nichts sehen. Sie müssen die Polizei verständigen. Hallo!«
Keine Antwort.
Wut erfüllte sie. Sie packte das Telefon und warf es mit aller Kraft gegen die Wand.
5
Gooch hatte sein Handy behalten, als er in Rente ging. Er brauchte es nicht wirklich. Er hatte nicht einmal ein Netz draußen im Wald, wo er wohnte. Aber er hatte es trotzdem behalten und pflichtbewusst jeden Monat die Rechnung bezahlt.
Warum? Vielleicht hatte er insgeheim gehofft, dass er eines Tages in die Stadt fuhr und das Telefon vibrierte und er auf das Display schaute und darauf stand: SIE HABEN EINE NACHRICHT.
Und vielleicht wäre es MeChelle, die ihn anrief – die ihn wegen etwas Wichtigem brauchte –, vielleicht ein alter Fall, über den er etwas wusste, vielleicht konnte man den Schmerz einer Familie lindern, ein Kind retten, einen Mörder fassen …
Aber es passierte nie.
Trotzdem hatte er das Handy noch. Während er und der Junge in Richtung Atlanta rasten, mit blauem Blinklicht auf dem Dach, wählte er MeChelles Nummer. Es klingelte einmal, zweimal. Drei-, vier-, fünfmal. Dann klickte es, und der Anrufbeantworter ging ran. »Sie haben Sgt. MeChelle Deakes …«
Er drückte auf eine Taste und unterbrach sie. Das Handy piepste, er konnte eine Nachricht hinterlassen. »MeChelle. Gooch hier. Ruf mich sofort an.« Dann drückte er auf den Knopf zum Beenden des Anrufes, drückte Wiederwahl.
Diesmal landete der Anruf direkt auf der Voicemail. Eigenartig. Wieso war er beim ersten Mal durchgekommen? Und beim zweiten Mal nicht?
Er drückte erneut Wiederwahl. Anrufbeantworter.
Gooch reichte Cody Floss das Handy. »Ruf weiter diese Nummer an«, sagte Gooch.
»Wie oft?«
»Tu mir einen Gefallen, Junge, ja?«, sagte Gooch. »Sprich nicht mit mir, es sei denn, ich frage dich etwas.«
Der Junge machte sich fleißig an die Arbeit, schien aber nichts zu erreichen. Jedes Mal, wenn er wählte, wartete er und schüttelte dann den Kopf.
Gooch erreichte die I-85 und trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Der große Wagen erreichte bald hundertneunzig. Die Straße passte ihm nicht wirklich bei der Geschwindigkeit. Er zuckte und eierte bei jeder Unebenheit. Schicksal.
Fünf Minuten später wählte Cody Floss immer noch und schüttelte immer noch den
Weitere Kostenlose Bücher