Blindwütig: Roman
Lassie aus der Schublade zu locken, doch sie fühlte sich darin sichtlich wohl.
»Mit diesem Tier stimmt etwas nicht«, stellte Penny fest.
»Sie ist bloß ein wenig exzentrisch.«
»Vielleicht kann ich sie mit einem von diesen Schinkenkeksen rauslocken, die sie so mag.«
»Gute Idee. Inzwischen kümmere ich mich mal um Milo«, sagte ich und kniete mich neben ihn auf den Boden.
Offenbar hatte seine Mutter ihn dazu gebracht, sich zu duschen. Er trug frische Sachen. In großen roten Lettern stand auf seinem T-Shirt: DURCHHALTEN.
Seine Sammlung an T-Shirts hatten wir in einem Laden im Einkaufszentrum bedrucken lassen. Ab und zu gab er Penny eine Liste mit neuen Wörtern, die er tragen wollte.
Nein, das kann ich euch nicht erklären. Milo konnte es uns auch nicht erklären. Unsere Gespräche darüber waren alle in etwa so gelaufen:
»Wieso musst du eigentlich Wörter tragen, Milo?«
»Namen sind wichtig.«
»Das sind doch gar keine Namen.«
»Jedes Wort ist ein Name.«
»Woher weißt du das?«
»Jedes Wort benennt einen Gegenstand, eine Handlung, eine Eigenschaft, eine Menge, einen Zustand …«
»Und wieso sind Namen wichtig?«
»Nichts könnte wichtiger sein.«
»Aber weshalb?«
»Weil nichts ist, wenn es nicht benannt wird.«
Neben ihm kniend, sagte ich nun: »Ich hole uns was Warmes zu essen. Was möchtest du haben?«
»Hab keinen Hunger«, erwiderte Milo, auf seine Arbeit fixiert.
Als wir auf der Fahrt in einem Hamburgerschuppen Rast gemacht hatten, da war er so von den merkwürdigen Erscheinungen auf seinem Gameboy fasziniert gewesen, dass er nur die Hälfte seines Cheeseburgers und nichts von seinen Fritten gegessen hatte.
»Du musst was essen, Milo. Ich lasse nicht zu, dass du hier sitzt und ständig vor dich hin werkelst, wenn du nichts isst.«
»Pizza«, sagte er. »Vegetarisch mit schwarzen Oliven.«
»In Ordnung.« Ich tätschelte ihm die Schulter. »Und ich verspreche dir, deiner Großmutter nie zu verraten, dass du was Vegetarisches bestellt hast.«
Er zog eine Grimasse. »Ach, Oma Clotilda, die liest das doch in ihrem Kaffeesatz«, sagte er. »Und mit Peperoni.«
Auf dem Weg zu Henry Casas hatte ich nicht weit von unserem Unterschlupf eine Pizzabude gesehen. Ich rief an und gab unsere Bestellung auf.
Ein wenig später, als ich losgehen wollte, um die Pizzas abzuholen, sagte Milo: »Dad, sei ganz, ganz vorsichtig. Halt die Augen offen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Was meinst du damit?«, fragte Penny erschrocken. »Wonach soll er die Augen offen halten?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »In zehn Minuten bin ich wieder da.«
»Beeil dich, Cubby«, sagte Penny. »Lass dir bloß nicht einfallen herumzutrödeln!«
Ich umarmte sie. »Versprochen.«
49
In der Pizzeria versuchte niemand, mich umzubringen.
Als ich in der Dämmerung zu unserer Hütte zurückging, wurde mir klar, wie Smokeville zu seinem Namen gekommen war. Bei einer bestimmten Temperatur führte die unterschiedliche Feuchtigkeit über dem Ozean und dem Land dazu, dass das Meer etwas von seiner Substanz abgab, die vom durstigen Land so aggressiv ostwärts gezogen wurde, dass sie weniger wie Nebel als wie Rauch aussah. Dieser falsche Rauch zog durch die Bäume, umhüllte die Häuser und schluckte das verbliebene Zwielicht.
Milo aß ordentlich, aber nicht mit uns am Tisch. Mit seinem geheimnisvollen Projekt beschäftigt, blieb er am Boden sitzen. Lassie beobachtete ihn vom Fernsehschrank aus.
Ich berichtete Penny von Henry Casas, seiner Mutter Arabella und der qualvoll umständlichen Methode, mit der er jetzt malte.
Penny war ebenso erstaunt wie ich, dass in dem Porträt, das er von einem seiner Peiniger gemalt hatte, sofort der deformierte Kerl im Maserati erkennbar gewesen war. Was uns jedoch beide wesentlich stärker beunruhigte, war seine Behauptung, er sei nicht von einem oder zwei Psychopathen entführt und verstümmelt worden, sondern von einer ganzen Meute.
Man hatte ihm mit chirurgischer Präzision Hände und Zunge amputiert und die Wunden anschließend fachgerecht versorgt. In den Reihen der mysteriösen Organisation, die ihn gekidnappt hatte, mussten sich also mindestens ein Chirurg
und wahrscheinlich weitere Personen mit medizinischem Wissen befinden.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine große Gruppe, zu der studierte Mediziner gehörten, sich nur zusammengefunden hatte, um sich gegenseitig bei Serienmorden zu unterstützen. Offenbar ging es noch um etwas anderes, was schlimmer
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