Blindwütig: Roman
war, als wir bisher gedacht hatten.
Je mehr wir erfuhren, desto geringer kamen uns unsere Überlebenschancen vor.
Bei der Suche nach Künstlern, die Waxx unter seinem Pseudonym Russell Bertrand angegriffen hatte, war Penny auf eine weitere Person gestoßen, die nicht nur den Worten des Kritikers zum Opfer gefallen war.
»Cleveland Pryor, ein Maler«, sagte sie. »Man hat ihn tot in einem Müllcontainer vorgefunden, in Chicago, wo er wohnte.«
Seine Leiche war so fest mit Stacheldraht umwickelt gewesen, dass er fast wie eine Mumie aussah. Laut der gerichtsmedizinischen Untersuchung hatte man den Draht um Pryor geschlungen, als dieser noch am Leben gewesen war.
»Pryor hatte seinen Vater nie gesehen«, berichtete Penny, »und seine Mutter starb, als er neunzehn war. Er hat nie geheiratet und hatte keine Kinder, also musste er wenigstens nicht zusehen, wie seine Angehörigen zugrunde gingen, bevor man ihn ermordet hat.«
Bei ihren Recherchen hatte sie außerdem entdeckt, dass mehrere Schriftsteller und Künstler, die einer neuen philosophischen Bewegung angehörten, nach Smokeville gezogen waren oder das vorhatten. Sie hofften, hier eine kreative Gemeinschaft zu gründen.
Wie Henry Casas und Thomas Landulf, so lehnten auch diese Leute den Nihilismus und Utopismus der heutigen Zeit
und der vergangenen hundertfünfzig Jahre ab. Sie strebten eine Zukunft an, die nicht auf den Theorien eines Einzelnen oder auf einer engstirnigen Ideologie basierte, sondern auf der viele Jahrhunderte alten Tradition und Weisheit, aus der unsere Zivilisation gewachsen war.
»Was erklärt«, sagte ich, »wieso es in derselben Stadt gleich zwei Opfer gegeben hat.«
»Wahrscheinlich noch mehr«, sagte Penny. »Und … wir sind jetzt bekanntlich auch an Ort und Stelle.«
Nachdem ich um neun Uhr abends erschöpft zu Bett gegangen war, wachte ich bereits gute zwei Stunden später wieder auf. Vor dem Einschlafen hatten wir nur eine der beiden Nachttischlampen ausgeknipst. Penny lag ruhig atmend neben mir.
Im Schlafzimmer standen zwei Doppelbetten mit Matratzen, die so hart waren, dass sie sich für eine chiropraktische Behandlung geeignet hätten. Das zweite Bett war leer.
Die verschwundenen Töchter von John Clitherow im Sinn, eilte ich hinaus ins Wohnzimmer. Milo war immer noch bei der Arbeit. Er hockte inmitten einer Anordnung von Apparaten und Apparaturen, die inzwischen deutlich größer geworden war.
Mein Laptop stand auf einem Hocker, und Milo betrachtete den Bildschirm, wo eine mysteriöse DVD von ebenso komplexen wie unidentifizierbaren Konstruktionen lief.
»Wann gehst du denn ins Bett, Schatz?«
»Noch nicht.«
»Du musst doch schlafen.«
»Eigentlich nicht.«
Lassie saß unter einem Stuhl, dessen Beine und Querstreben einen Käfig um sie herum bildeten. Da passte sie zwar
kaum hinein, wedelte jedoch trotzdem grinsend mit dem Schwanz.
Obwohl ich die Antwort schon im Voraus kannte, fragte ich: »Hast du sie da unter den Stuhl gepfercht?«
»Nein«, sagte Milo wie erwartet, »das hat sie selbst getan.«
»Das kann doch nicht bequem sein!«
Ich hob den Stuhl in die Höhe und stellte ihn beiseite.
Lassie stand auf, schüttelte sich und legte den Kopf schief, als wollte sie mir mitteilen, dass ich aus ihrer Sicht immer noch das bei weitem merkwürdigste Familienmitglied darstellte.
Ich deutete auf den Bildschirm. »Was ist das?«
»Struktur.«
»Hat es irgendwelchen Zweck, wenn ich mich erkundige, was für eine Struktur?«
»Nein.«
Das Bild veränderte sich, als würde eine Kamera es von oben heranzoomen oder als würde man eine Gewebeprobe unter dem Mikroskop in immer stärkerer Vergrößerung betrachten. Dann bildete sich dort, wo das bisherige Muster gewesen war, ein neues.
»Was ist das?«
»Tiefere Struktur.«
»Das dachte ich mir schon. Geh bald ins Bett.«
»Klar.«
»Ist das ehrlich gemeint?«
»Klar.«
An der Tür zum Schlafzimmer angelangt, sah ich mich noch einmal um. Milo hatte eine Hand zum Bildschirm gehoben, als wollte er das Bild der tieferen Struktur ergreifen und betasten. Lassie saß wieder unter dem Stuhl und grinste mich an.
Als ich um zwanzig nach eins erneut aufwachte, lag Penny schlafend neben mir, während Milos Bett immer noch leer war.
Sofort nahm ich die pulsierenden Wirbel und Finger aus strahlend blauem und rotem Licht wahr, die jenseits der offenen Tür kreisten. Das Ganze sah aus, als hätte jemand einen Streifenwagen im Wohnzimmer geparkt.
Ich schlüpfte aus dem Bett.
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